Mittwoch, 21. November 2018

Schocken!


Die Geschichte urteilt oft ganz anders über Führungspersönlichkeiten, als die Zeitgenossen.
Der Multimillionär Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg schwang sich in den Jahren 2009-2011 zum beliebtesten deutschen Politiker seit Adolf Hitler 1941 auf.
Zeitungen von links bis rechts berichteten nicht mehr sachlich über ihn, sondern huldigten devot dem Mann, den sie sich als nächsten König von Deutschland wünschten.
Es war völlig sicher, daß dieser Mann Deutschlands zukünftiger Superkanzler werde. SPIEGEL und FAZ schrieben, KTG müsse nur zugreifen. Würde er seinen Hut in den Ring werfen, bliebe Merkel nur der Rücktritt.

Nur wenige Jahre später fristet KTG ein Leben als persona non grata im Exil, hofft verzweifelt darauf wieder gerufen zu werden, ist allerdings nur noch als der große Blender, die Inkarnation der Enttäuschung, der Selbstinszenierungsminister ohne irgendwelchen politischen Inhalte in Erinnerung.

Es kann auch umgekehrt laufen. Helmut Schmidt war für viele Deutsche erst mal eine Enttäuschung nach dem charismatischen Willy Brandt. Dem Weltökonomen flogen die Herzen nicht zu, als er durch die Ölkrise steuerte, den autofreien Sonntag durchsetzte und die Weltwirtschaftstreffen, sowie den Euro erfand.

20 Jahre nach seinem erzwungenen Ende als Kanzler war Schmidt zum deutschen Superstar, zum allwissenden Orakel und Zuschauermagnet emporgestiegen.

Ich bin fest davon überzeugt, daß es Gerd Schröder dereinst ähnlich ergehen wird. Die Geschichte wird ihn eines Tages als einen der ganz großen Visionäre und wichtigsten Kanzler der BRD würdigen.
Die Gründe, weswegen er heute so gern negativ konnotiert wird, werden keine Rolle mehr spielen. Man wird seinen Mut, seine ökonomische Kompetenz, seine weltpolitische Progressivität und all seine gesellschaftlichen Neuerungen und Liberalisierungen loben.
Der Andere ist natürlich der, daß „Schröder“ so ein hervorragender Trigger ist, um verbohrte Linke ganz fürchterlich aufzuregen.
Die springen dann wie pawlowsche Hunde los und blamieren sich vortrefflich mit den ewig gleichen erbärmlichen Beleidigungen: „Gas-Gerd, Putin-Versteher, Brioni-Kanzler. Das finde ich lustig.

Nur ein sozialdemokratischer Name regt SPD-Linke noch mehr auf als „Schröder“ und das ist Klaus von Dohnanyi.
Der 90-Jährige Ex-Bürgermeister Hamburgs wirkt auf die Kühnert-affinen Jusos wie in UV-Licht gehüllte Knoblauchzehen auf Vampire. Seine wichtigsten Ämter - von 1972 bis 1974 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1969 bis 1981 Mitglied des Deutschen Bundestags und von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg – und Taten (er bewirkte das Wunder von der Hafenstraße) sind längst vergessen.

Der hochgebildete Schöngeist stammt aus  einer berühmten adeligen Widerstands-Familie: Vater Hans von Hans von Dohnanyi und Mutter Christine Bonhoeffer (Schwester von Dietrich Bonhoeffer) wurden zusammen mit Onkel Dietrich am 5. April 1943 verhaftet, weil sie am Hitler-Attentatsversuch und dem Putschversuch Henning von Tresckows beteiligt waren. Adolf Hitler ließ Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi im KZ Sachsenhausen ermorden.
Klaus‘ Bruder Christoph von Dohnányi ist ein weltberühmter Dirigent.
Nach 1989 erwarb sich Klaus von Dohnányi noch mehr Ruhm und Ehre, als er sofort in die DDR übersiedelte und viele Jahre mit ganzer Kraft aus altruistischen Motiven für die Ossis arbeitete.
Sein Buch „Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre“ von 1990 wurde zum bedeutendsten Werk der Wende. Im Anschluss fungierte er von 1990 bis 1994 als Beauftragter der Treuhandanstalt für die Privatisierung ostdeutscher Kombinate, arbeitete beim  Fördermaschinen- und Kranbauer TAKRAF in Leipzig, war unter Schröder 2003 bis 2004 Sprecher des Gesprächskreises Ost.
Er ist Gründungskommissar der Bucerius Law School in Hamburg, leitet den Mindestlohn-Ausschuss der Bundesregierung, ist Mitglied der Atlantik-Brücke und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und war Gründer der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.


Ein großer Mann, der allerdings auch zu meinem Missvergnügen unter schwerer Grünen-Phobie leidet und seit Jahrzehnten Koalitionen seiner SPD mit den Grünen bekämpft.
Die jüngeren und linkeren Sozis verzeihen ihm insbesondere nicht seine persönliche Freundschaft mit Angela Merkel.
Das ist vielen nicht nur deshalb suspekt, weil sie nun einmal Chefin der großen Konkurrenzpartei CDU ist. Dubioser noch erscheint SPD-Linken die Tatsache, daß von Dohnányis offenbar nicht nur Bekannte Merkels sind, sondern tatsächlich enge persönliche Freunde sind, die das Paar Merkel-Sauer auch beraten.
Dabei befolgt Klaus von Dohnanyi streng Merkels Grundregel von der absoluten Diskretion und erzählt öffentlich nicht das geringste Bißchen über Merkels Privatleben und ihre Privatansichten.

Als notorischer Linken-Fresser macht sich der 90+-Nadelstreifensozialdemokrat derzeit wieder besonders unbeliebt, weil er im aktuellen SPIEGEL mit einem Aufsatz vor einem Linksruck der Partei warnt.
Da läuft den Pawlow-Sozis der Sabber.


Seinen Artikel gelesen haben sie allerdings offensichtlich nicht.
Denn darin steht viel Richtiges und Bedenkenswertes.

[…..] Raus aus der Nische. Warum ein Ruck nach links für die SPD tödlich wäre. […..] Im SPIEGEL vom 20. Ok­to­ber for­der­te Veit Me­dick im Leit­ar­ti­kel den Ab­schied vom Re­form­weg des Go­des­ber­ger Pro­gramms von 1959, mit dem sich SPD und Markt­wirt­schaft end­lich ver­söhn­ten. Die Par­tei sol­le sich nun »ein Stück zu­rück in die Ni­sche« vor Go­des­berg zu­rück­zie­hen, schreibt Me­dick, und »na­tür­lich muss sie nach links«. So sieht es wohl auch ein gro­ßer Teil der SPD. Aber wei­ter links gibt es schon die Lin­ke mit sta­bi­len zehn Pro­zent. Die Grü­nen wie­der­um sind er­folg­reich, ge­ra­de weil sie kei­nen ver­schärf­ten Links­kurs ver­fol­gen.
Die SPD fehlt heu­te also nicht als »lin­ke« Par­tei: Sie fehlt als Volks­par­tei mit brei­tem Spek­trum, die Ar­beit­neh­mer, Hand­wer­ker, fort­schritt­lich den­ken­de Un­ter­neh­mer und Wis­sen­schaft­ler an­spricht. Sie fehlt als Ge­gen­ge­wicht zur Uni­on für ei­nen mög­li­chen Macht­wech­sel mit ei­nem so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Bun­des­kanz­ler. Macht­wech­sel sind die Eck­pfei­ler je­der De­mo­kra­tie, aber nur wer die Mit­te er­reicht, wird ihn auch her­bei­füh­ren kön­nen. […..]
(Der So­zi­al­de­mo­krat Dohn­anyi im SPIEGEL Nr 47 vom 17.11.2018, s.29)


Und da wundern sich die Küken, wenn man als SPD-Geront die mangelnde inhaltliche Tiefe der Generation Facebook beklagt.

[…..] Die Di­gi­ta­li­sie­rung wird alle Be­rei­che der Ge­sell­schaft tief­grei­fend ver­än­dern. Vor ih­rem Hin­ter­grund wer­den sich auch die von der SPD so er­folg­reich ein­ge­lei­te­ten Re­for­men be­wäh­ren müs­sen. Hier ei­nen glaub­wür­di­gen Zu­kunfts­ent­wurf für ein po­li­ti­sches Pro­gramm ei­ner zu­ver­sicht­li­chen, mu­ti­gen und re­form­star­ken Volks­par­tei SPD im di­gi­ta­len Zeit­al­ter zu ent­wer­fen, ist un­se­re Auf­ga­be. Wir ge­hö­ren nicht in ver­staub­te Ni­schen von Wa­genk­necht und Co. […..]
(Der So­zi­al­de­mo­krat Dohn­anyi im SPIEGEL Nr 47 vom 17.11.2018, s.29)

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