Sonntag, 9. Dezember 2018

Digital Detox

Besonders trendy ist das eigentlich nicht mehr; seit Jahren brüsten sich Journalisten, Celebrities und Influencer aller Art damit auf Social Media-Entzug zu gehen.
Dafür gibt es mehrere Argumentationslinien:

§  Der Onlinesucht entkommen.
§  Protest gegen die dubiosen Datenkraken-Machenschaften der Konzerne
§  Rückstoß ins „reale Leben.“
§  Handy-Game-Abhängigkeit.
§  Genörgel über die Themensetzung und Blasenbildung in den sozialen Netzen.
§  Allgemeiner Kulturpessimismus à la „FB-Freunde sind keine echten Freunde!“

Wiewohl ich allen Begründungen etwas abgewinnen kann, bin ich als „digital imigrant“ vermutlich niemals so gefährdet zum absoluten Smombi zu mutieren, wie die „digital natives“, die auf der Straße gegen Laternenpfähle prallen, weil sie den Blick nicht vom Klugtelefon wenden können und sich ohne mobiles „google maps“ nach 50 m auf einer geraden Straße verirren.

In der Wochenendausgabe der MOPO prangt Blitzbirne Lucie Wittenberg auf dem Titel und verkündet auf den folgenden Seiten in epischer Breite ihren Verzicht auf Facebook.


Der Applaus ist billig erhascht. Wer hätte sich noch nicht über Facebook geärgert? Jenes Medium, das mutmaßlich mit russischen Bots dazu beitrug Donald Trump zum US-Präsidenten zu machen, das unverantwortlich mit Datenschutz umgeht und das mich schon insgesamt sechs Monate sperren ließ, weil ich die Kirche kritisierte oder weil die Algorithmen nicht mit Ironie umgehen können.
Wenn ein evangelikaler US-Republikaner erklärt Gay Marriage sei an den Kalifornischen Waldbränden schuld und ich diese Meldung mit dem Kommentar „Ja, das stimmt! Schwule lösen auch Erdbeben und Hurrikans aus“ teile, ist das kein homophober Verstoß gegen die Gemeinschaftsregeln.
Es nervt, wenn das nicht erkannt wird und daß man keinerlei Einspruchsmöglichkeiten hat.
Man empfindet es als sehr ungerecht mundtot gemacht zu werden, während Trump, die AfD und Co ungestört hetzen dürfen.

Aber Facebook ist eine Privatfirma und wenn mir deren Geschäftsbedingungen nicht passen, muss ich da nicht mitmachen.
Natürlich nutzen viele Menschen Facebook zähneknirschend dennoch, weil es keine Alternative gibt, wenn man weltweit kommunizieren will. Zwei Milliarden aktive Nutzer sind ein gewichtiges Argument.

Frau Wittenberg kritisiert aber die oberflächlichen Inhalte, die sie so viel Zeit kosteten und sie das Handy gar nicht mehr aus der Hand legen ließen.


Hier muss man der Redakteurin mit der Vorliebe für Yoga und Welpen allerdings widersprechen.
Facebook ist eine Plattform, die man klugerweise so nutzt, daß diese Oberflächlichkeiten nicht das Leben bestimmen.


Auch für Facebook gilt, was Marcel Reich-Ranicki schon vor Jahrzehnten über das TV sagte: „Fernsehen macht Dumme dümmer und Kluge klüger!“
Dabei hat „Fernsehen“ ein schlechteres Image als Bücher. Bücher zu lesen gilt grundsätzlich als eher klug. Aber auch das ist Unsinn.
Es gibt unheimlich viel hanebüchenen Unsinn, der zwischen zwei Buchdeckel gepresst wird. Wer sich Ufologen-Bücher bei Kopp bestellt, rechtsradikale Verschwörungstheorien bei Elsässers Compact oder auch Esoterik/Homöopathie-Ratgeber bei Amazon ersteht, ist nicht schlau, weil er liest, sondern wird weiter verdummt.
Natürlich steht in den meisten Blogs Unsinn, aber deswegen ist das Tool „Blogger.com“ nicht grundsätzlich schlecht, sondern man kann auch kluge Texte wie meine darauf lesen. Zwinkersmiley.
Das Internet ist grundsätzlich eine Hilfe, eine Bildungs- und Recherche-Möglichkeit, aber auch eine Zeitklau-Maschine.
Es steht aber jedem frei sich dem gröbsten Unfug zu entziehen.
Ich nutze soziale Netzwerke, verbreite aber grundsätzlich keine privaten Bilder. Daher gibt es weder Selfis noch Urlaubsbilder von mir im Netz. Ich poste niemals Hunde- oder Katzenbilder, habe mich noch nie dem Foodporn hingegeben und würde schon gar nicht irgendwelche Beziehungs-, Familien- oder gar Sexinformationen verbreiten. Einladungen zu irgendwelchen Onlinegames blockiere ich grundsätzlich; ich weiß gar nicht was dieses „Zocken“ überhaupt ist und will es auch nicht wissen.

Man kann sich aber dafür monothematischen Gruppen anschließen, gezielt internationalen Medien und Journalisten folgen und politische Quellen im Original anzapfen.
Über solche gemeinsamen Interessen wird tatsächlich Facebooks Werbespruch „connecting people“ wahr. So pflege ich inzwischen Kontakte zu Menschen, mit denen ich mich rege politisch austausche, die ich eben nicht „im realen Leben“ treffen könnte, weil sie auf anderen Kontinenten wohnen.
Und ja, aus virtuellen Facebook-Kontakten können reale Freunde werden.
Außerdem sei erwähnt, daß anonyme Online-Kontakte nicht grundsätzlich schlechter als „herkömmliche Freunde“ sind, sondern anders.
Normale Bekannte muss man pflegen, indem man sie zu langweiligen Geburtstagen besucht, Hochzeitsgeschenke schickt und viel Smalltalk macht.
Das bedeutet noch nicht, daß ich denen jederzeit nachts mein Herz ausschütten kann.
Online in anonymen Foren geht das aber schon. Man muss da zwar auswählen und aufpassen, aber gerade wenn man sich nicht von Angesicht zu Angesicht sieht, kann man ehrlich und altruistisch sein.
Ich bin schon über nächtliche ausführliche Diskussionen und Problemgespräche mit Menschen in ein ausgesprochenes Vertrauensverhältnis gerutscht, deren weitere Lebensumstände ich erst viel später erfuhr. Auch das kann ein Vorteil sein, wenn sich nämlich herausstellt, daß die/derjenige irgendein Hobby/Äußerlichkeit/Ansichten mit sich rumträgt, die einen auf den ersten Blick total abgestoßen hätten.
Jeder möchte gern vorurteilsfrei sein, aber ich glaube nicht, daß das 100%ig möglich ist.
Ich habe beispielsweise erhebliche Vorbehalte gegen junge Menschen und halte alle unter 30-Jährigen für Idioten. Aber gelegentlich war ich überrascht, wenn sich ein geschätzter Gesprächspartner auf einmal als 27-Jähriger herausstellt. Also jemand, den ich im echten Leben gar nicht wahrgenommen hätte.
Es dient auch der Sachlichkeit in politischen Debatten, wenn man zunächst einmal nicht weiß, ob die Diskutanten schwarz, schwul, muslimisch oder gar amerikanisch sind.


Diese echten Social-Media-Vorteile werden selbst bei kontrollierter Benutzung aber durch immer wieder aufpoppende Sinnlosigkeiten konterkariert. Dann teilt man eben doch mal das erstaunliche Video von dem Handwerker mit den superschnellen Händen oder dem Moderator mit dem lustigen Versprecher.

Dagegen hilft aber eine Limitierung des Internetzugangs am besten.
Das Problem ist nicht Facebook, sondern es sind die Klugtelefone, die schwache Geister wie Frau Wittenberg nicht aus der Hand legen können.
Social Media sollte man nicht mobil betreiben, sondern zu Hause am Computer.
Dann ist man auf der sicheren Seite.
Sofern man kein Vollidiot ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen