Donnerstag, 28. November 2019

Rekanakisierung

Wie derb und unschicklich ein Wort konnotiert wird unterliegt starken Schwankungen.
Als Grundschüler brachte ich das Wort „geil“ mit nach Hause und löste damit so ein Entsetzen aus, daß mir ausdrücklich verboten wurde es jemals wieder zu verwenden. Das geschockte Gesicht meiner Mutter sehe ich heute noch vor mir.
Davor war das ein Begriff aus der Botanik für schnell wachsende Triebe, aber nun wurde er auf einmal drastisch-sexuell verwendet.
Wenige Jahrzehnte später hat sich diese Schock-Konnotation abgeschliffen. Geil ist nur noch eins unter vielen Synonymen des Wortes „gut“.

Eine genau umgekehrte Entwicklung nahm das Wort „Neger“, das meine Elterngeneration noch als ganz neutralen Begriff verwendete.
Stolpert man heute in einem Mark Twain-Buch darüber, schaudert es einen vor Entsetzen. Das Wort ist so eindeutig verletzend und rassistisch, daß sogar die meisten AfD-Politiker es scheuen.

Manchmal kapern auch die mit einem drastischen Begriff diskriminierten Minderheiten einen Begriff und versuchen seine Assoziation zu verändern.
Sehr gut funktionierte das mit dem einst ebenfalls derb beleidigenden Begriff „schwul“, den erst die Schwulen selbst adoptierten und der heute allgemein gebräuchlich ist.
Schwarze Rapper nennen sich selbst und gegenseitig „Nigga“ oder „Nigger“ – aber in dem Fall ist die Verwendung des Begriffes nur streng innerhalb der Gruppe der Schwarzen möglich. Kein Weißer darf sich das erlauben.

Eine etwas ähnliche Entwicklung bahnt sich bei dem Wort „retard“ an. Derzeit gilt der Begriff noch als stark abwertend.
Sarah Palin wurde sehr sehr böse, als ihr 2008 mit Down-Syndrom geborener Sohn Trig retarded (geistig behindert) genannt wurde, obwohl sie ihn selbst gelegentlich als „retard“ bezeichnete.
Inzwischen verwenden immer mehr Menschen mit Trisomie21 selbst den Begriff, um ihn aus der Schmuddelecke zu holen.

Feridun Zaimoglu (*1964 in der Türkei) ist in vielerlei Hinsicht das diametrale Gegenteil seines Schriftstellerkollegen Akif Pirinçci (*1959 in der Türkei, Verurteilung wegen Volksverhetzung).
Er ist ausgesprochen sympathisch, hochintelligent, engagiert, belesen, witzig und mauserte sich zu einem ganz großen deutschen Schriftsteller.
Pirinçci, der in Ermangelung von Talent und Bedeutung inzwischen nur noch durch Verwendung bösartigster rassistischer Hetzbegriffe in Erscheinung tritt, ist ein armes Würstchen, der sein Metier nicht beherrscht. Er kann nicht mit Worten spielen, kreativ mit ihnen umgehen, sondern muss sich darauf beschränken die primitivsten Worte als verbale Keulen einzusetzen.
Zaimoglu ist ein Meister der deutschen Sprache, verwendet sie virtuos in seinen großen Romanen.
Schlagartig bekannt wurde er aber 1995 mit seinem Buch „Kanak Sprak“.
Vor 24 Jahren gefiel mir der Titel gar nicht.
Mein damaliges Konnotationssystem schlug bei dem Begriff „Kanake“ so negativ aus, daß ich strikt vermied diesen Terminus zu gebrauchen.
 Schon vor über 20 Jahren fühlte sich Zaimoglu von der wie immer sagenhaft verblödeten Gaby Hauptmann genervt, als sie ihn in der „III nach 9“-Talkshow als „Türke“ darstellte. Schon damals gab es 40 Jahre Integrationsgeschichte, ohne daß Politik und Journalisten die zweite oder dritte Generation überhaupt verbal zur Kenntnis nahm.


Faszinierend das heute zu sehen. Auch eine so kluge Frau wie Heide Simonis macht den in Deutschland lebenden Deutschen Zaimoglu gleich für die Türkei verantwortlich und pestet, sie dürfe schließlich in der Türkei auch nicht so reden.

Ignatz Bubis erzählte auch immer gern, wie ihn Spitzenpolitiker auf SEINEN Präsidenten ansprachen und er antwortete „Ja, was ist mit Roman Herzog?“.
50 Jahre nach dem Ende des Weltkrieges outeten sich die Volksvertreter mit der Ansicht Juden gehörten immer noch nicht nach Deutschland und wären Israelis.

Inzwischen ist eine weitere Generation migrantischen Lebens entstanden und immer noch werden diese Millionen Deutschen ignoriert.
Viele Menschen, deren migrantisches Erbe optisch sichtbar ist, oder die aus anderen Gründen vom rechten Mainstream nicht akzeptiert werden – PoCs* -  obwohl sie lange voll integriert sind, reagieren mehr und mehr genervt.

*PoC sind alle, die als "anders" wahrgenommen werden und damit nicht als "weiß" (=deutsch, christlich, europäisch). Es geht dabei nicht um die Beschreibung von Hautfarben - auch hellhäutige Frauen mit Kopftuch oder Männer mit Kippa sind of Color und nicht weiß.

Die großartige SPIEGEL-Journalistin Ferda Ataman (*1979 in Stuttgart) ist wütend.

[……]  Ich sage in jüngster Zeit häufiger "wir Kanaken" oder "wir Känäx" (Kanaks, englisch ausgesprochen). Ich sage das an Stellen, wo ich früher "Menschen mit Migrationshintergrund" oder "aus Einwandererfamilien" verwendet hätte. Ich mag aber nicht länger so tun, als würde es ums Einwandern gehen. Was haben Kinder, die heute in der dritten Generation in Deutschland geboren sind, mit Migration zu tun? Am Ende des Tages geht es darum, zu welcher "ethnischen" Gruppe man gehört. Also fühlt sich Kanaken als Bezeichnung ehrlicher an als Migranten. [……] 

Atamans noch prominentere Kollegin Ferdos Forudastan (*1960 in Freiburg), die Nachfolgerin von Heribert Prantl als Innenressortchefin bei der Süddeutschen Zeitung ist mit dem ehemaligen NRW-Minister, Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Olympischen Sportbundes, aktuell Präsidenten des Direktoriums für Vollblutzucht und Rennen, Michael Vesper verheiratet, geht bedauerlicherweise allerdings demnächst zur Civis-Medienstiftung und somit wirklich „angekommen.“

Auch sie macht die gleichen Erfahrungen, wird dauerhaft als Migrantin, als „Nicht-dazu-Gehörende“ wahrgenommen und beklagt Nichtbeachtung durch Politik und Medien.

[…..] Es ist ein grobes Missverhältnis: Wenn deutschstämmige Bürger fürchten, dass dieses Land sich mit der Aufnahme von Geflüchteten überfordert, sind etliche Politiker rasch zur Stelle. Sie hören zu, erklären, äußern öffentlich Verständnis. Wenn Menschen mit ausländischen Wurzeln fürchten, dass der Rechtsruck hierzulande ihr Leben erschwert, wenn sie Angst davor haben, dass Diskriminierung und Angriffe zunehmen, dann landet das vergleichsweise selten auf der Agenda vieler Träger von Amt und Mandat.
Wie fühlen sich Männer mit dunkler Hautfarbe oder Frauen mit Kopftuch dort, wo mindestens ein Viertel der Wähler für die AfD gestimmt haben? Wie geht es Einwanderern oder ihren Nachkommen, wenn zahlreiche Nachbarn oder Kollegen das Kreuz bei einer Partei gemacht haben, in der sich Rassisten tummeln? Auch zwei Wochen nach den Wahlen in Brandenburg und Sachsen sind das keine Fragen, die es nennenswert in den politischen Diskurs geschafft haben - weder im Osten noch darüber hinaus.
Das Abschneiden der AfD bei Wahlen und in Umfragen treibt viele Migranten und Menschen, die dafür gehalten werden, ebenso sehr um wie etwa der Hass gegen sie im Netz. […..]

Nur zu verständlich, daß man es satt hat sich anzubiedern, stromlinienförmig zum Vorzeigedeutschen zu werden. Daß man es satt hat verbal mit Samthandschuhen zu agieren, sondern an dem Punkt ankommt, an dem Zaimoglu schon vor einem Vierteljahrhundert war: Wir sind Kanaken.
Die radikale Fremdenfeindlichkeit der AfD, der fast niemand – außer vielleicht Johannes Kahrs – entgegentritt, macht es deutlich.
Niemand fühlt sich zuständig, niemand solidarisiert sich wirklich, niemand zeigt Empathie.

[……]  Stärkt es die Demokratie, wenn Rassisten in Parlamenten und Medien zu Wort kommen? Wer das so sieht, ist wohl selbst von Hass und Hetze nicht betroffen. Bei denen, die es sind, wächst das Unverständnis - und die Wut.


[……]  Viele Menschen mit Kanakenhintergrund sind alarmiert, weil sie öfter als sonst Nachrichten über mutmaßlich rechtsextreme Anschläge und Netzwerke hören. Ich finde, in Anbetracht der bedrohlichen politischen Lage legen Millionen von Menschen viel Ruhe und Gelassenheit an den Tag. Sie machen sich nicht bemerkbar. Doch die Ruhe ist nur oberflächlich. Innerlich brodelt es bei vielen. Sie sind wütend. Ich bin wütend.
Die Wut rührt nicht etwa daher, dass sich der braune Bodensatz inzwischen in allen Parlamenten wiederfindet und legitimiert fühlt. Der Zorn kommt vor allem wegen der Ignoranz der Mitte. Ich habe den Eindruck, Kanaken und die weiße politische Mitte - das sind zwei Welten, die gerade auseinanderdriften.
Ein Beispiel: Nur wenige Wochen nach dem antisemitischen und rassistischen Terroranschlag in Halle war das große Thema in sämtlichen Medien, dass sich viele Deutsche in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Keine Ahnung, in welcher Parallelgesellschaft diese Opfer der Meinungsfreiheit leben, aber spielt es denn gar keine Rolle, wie so eine Debatte bei Juden und anderen People of Color* ankommt, die in den vergangenen Jahren beobachtet haben, dass man den Holocaust relativieren oder Menschen als Parasiten bezeichnen kann, ohne dass das Konsequenzen hat? [……]  In meinem privaten Umfeld merke ich das Brodeln bereits beim Smalltalk, wenn die Frage kommt, "und was ist dein Plan B für Deutschland?" Ich bin jedes Mal wieder erstaunt, wie viele schon eine Antwort darauf parat haben.
Vielleicht habe ich sie auch überhört, aber ich kenne keine einzige politische Ansprache, die das berücksichtigt und sich explizit an Deutsche of Color und Eingewanderte richtet. So etwas wie: "Keine Sorge, da wollen gerade ein paar Rechtsextreme Taten statt Worte walten lassen, aber wir dulden das nicht. Wir werden mit aller Härte des Rechtsstaats dagegen vorgehen." Ich sage es mal ganz pauschal: Wir Kanaken sind von den etablierten Parteien enttäuscht. [……] 

Lange Zeit glaubte ich mir vorstellen zu können wie sich Ausländer in Deutschland fühlen.
Ich habe auch keinen deutschen Pass, einen eigenartigen Namen, den niemand aussprechen kann und lebe in vieler Hinsicht außerhalb der Norm.
Ich empfand es als latent beleidigend, wenn mir Freunde mit dunklerem Teint sagten „du kannst dir nicht vorstellen wie das ist…“
Inzwischen glaube ich aber auch, daß die optische Sichtbarkeit – dunkle Haut, Kippa, Schläfenlocken, Kopftuch die Erfahrung von ständiger Ausgrenzung auf ein anderes Niveau hebt.
Vermutlich können sich Weiße das tatsächlich nicht wirklich vorstellen.

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