Der neue Bundestag
arbeitet zwar nicht, obwohl schon zwei Monate seit der Bundestagswahl vergangen
sind, aber das neue Parlament hat durchaus seine sympathischen Seiten. Es
glänzt nämlich durch die Abwesenheit einiger der schlimmsten Politbrechmitteln:
Kein Geis, kein Brüderle, kein Thierse.
Letzter war wegen Religiotismus im Endstadium, fortschreitender Bösartigkeit und massiver Faktenallergie zum „Jahresendhonk“ erkoren worden.
Der
Pöbler aus Berlin verabschiedet sich aus dem Jahr 2012, indem er als Apologet
der Nächstenliebe noch mal ordentlich über die Zugezogenen herzieht.
Alles
voller Schwaben in Thierses Kiez; das kann er auch nicht ab.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat das alltägliche
Zusammenleben mit zugezogenen Schwaben in dem Berliner Stadtteil Prenzlauer
Berg als mitunter "strapaziös" bezeichnet. "Ich wünsche mir,
dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind – und nicht mehr in
ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche".
[…]
Thierse konkretisierte, er ärgere sich, wenn er etwa beim Bäcker erfahre, dass
es keine Schrippen gebe, sondern Wecken. "Da sage ich: In Berlin sagt man
Schrippen, daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen." […] Ebenso störe es ihn, wenn ihm in
Geschäften "Pflaumendatschi" angeboten würden. "Was soll das? In
Berlin heißt es Pflaumenkuchen", sagte Thierse der Zeitung. Angesichts
dieser Zustände werde er "wirklich zum Verteidiger des berlinerischen
Deutsch."
Es
ist an der Zeit, daß Thierse sich als Kreuznet-Autor outet.
Muß
er sich mit den Xenophoben gemein machen?
In
meiner Partei verursacht er mir inzwischen schwere Magengeschwüre.
Die
„Schwaben“ (dazu zählen in Berlin alle nicht Eingeborenen vom Kieler bis zum
Rosenheimer) sind wenig amused über den keifenden Katholiken. […..]
Womöglich gibt es eine Erklärung
für Thierses Geisteszustand.
Er, der überall in Deutschland die Christlichen Kirchen erblühen sieht, lebt ausgerechnet mitten in einer Stadt, die so offensichtlich nicht vom christlichen Leben dominiert ist.
Er, der überall in Deutschland die Christlichen Kirchen erblühen sieht, lebt ausgerechnet mitten in einer Stadt, die so offensichtlich nicht vom christlichen Leben dominiert ist.
Thierses Vorgesetzte
gruseln sich gar sehr.
Berlin ist nach Worten des Präsidenten
des Päpstlichen Kulturrats, Gianfranco Kardinal Ravasi (Foto), in religiösen
Dingen «fast so etwas wie eine Wüste». Das Christentum befinde sich in der
deutschen Hauptstadt «wirklich in der Defensive», sagte der Kardinal im
Interview mit der Tageszeitung «Die Welt». Berlin gehöre «zu den Städten in
Europa, in denen die Säkularisierung am weitesten fortgeschritten ist«, so
Ravasi. Dabei sei es ȟblich geworden, sich auf die vorletzten Fragen zu
konzentrieren«. Er selbst wolle hingegen bei einem Dialogforum dort
grundsätzliche Fragen erörtern, etwa »nach Leben und Tod, nach der Wahrheit,
nach der Bioethik«.
[….]
Ravasi
nannte im Gespräch mit der »Welt« das Christentum die europäische
»Muttersprache« auch für diejenigen, die es ablehnten. Ohne Christentum seien
auch Nietzsche und Voltaire nicht zu verstehen, sagte er unter Bezug auf den
Lyriker T. S. Eliot. »Wenn wir diese Muttersprache verlernen, dann verlieren
wir unsere Identität«, sagte Ravasi. »Wir haben heute keine klare kulturelle
Identität mehr.«
Doofe Sache mit der
Säkularisierung.
Die Menschheit wird immer urbaner und damit verschwindet die Religion.
Die Menschheit wird immer urbaner und damit verschwindet die Religion.
So denkt sich das
jedenfalls resignierend der Europäische Christ.
Wahr ist es allerdings
nicht. Außer in Europa werden die Megacities sogar immer religiöser. Dort ist
allerdings auch das religiotische Angebot attraktiver. Aber was will man mit
einer konservativen Altherrenkirche à la RKK-Berlin?
Aus der Erfahrung der westlichen
Industrialisierung heraus hatte sich in der Stadtforschung die Säkularisierung
als Moderne-Indikator etabliert. Religiös geprägte Städte wie Rio, Istanbul
oder Lagos standen deshalb lange im Ruf, den Schritt in die Gegenwart noch vor
sich haben.
Ende des 20. Jahrhunderts legten die
wirtschaftlichen Wachstumsraten der jeweiligen Länder jedoch den Verdacht nahe,
dass Modernisierung vielleicht doch nicht in jedem Fall ein
Säkularisierungsprozess ist, wie auch Georg Simmel angenommen hatte. Der
Ausgangswert war falsch: Die frühen Soziologen hatten die säkulare Großstadt
Berlin zum Standard der modernen Stadt erhoben, dabei war Berlin immer ein
Sonderfall: Bis heute gilt es als am wenigsten religiöse Großstadt des
Planeten. In Kairo hingegen hat sich die Bevölkerung in den letzten 40 Jahren
verdoppelt, die Zahl der Moscheen jedoch vervierfacht.
Erst als Ende des 20. Jahrhunderts nicht
mehr zu übersehen war, dass die Megacities in den Schwellenländern ihren
rasanten Bevölkerungszuwachs entschieden anders organisierten als von den
ehemaligen Kolonialherren verordnet, holten die westlichen Urbanisten die
Notizhefte heraus und fingen an mitzuschreiben.
Am Wochenende wurde bei einer Konferenz
im Berliner Haus der Kulturen der Welt das Buch 'Global Prayers - Contemporary
Manifestations of the Religious in the City' diskutiert, der Abschlussbericht
des gleichnamigen Forschungsprojektes, das sich vorgenommen hatte, den blinden
Fleck der zeitgenössischen Urbanistik zu beseitigen: die Religion.
(SZ vom 21.11.2013)
Dann forscht mal schön,
liebe Urbanistiker in Berlin.
Dort in der Terra
Incognita dürftet ihr allerdings wenig Anschauungsunterricht genießen.
Der Berliner ist mit
anderen Dingen beschäftigt, für die es andernorts die Religion bedarf:
ER pflegt sein „wir sind besser als die“-Gefühl, in dem er Zugereisten grundsätzlich den gestreckten Mittelfinger zeigt.
ER pflegt sein „wir sind besser als die“-Gefühl, in dem er Zugereisten grundsätzlich den gestreckten Mittelfinger zeigt.
'Haut ab' - so empfängt man Touristen in
Berlin. [….]
An einem noch klaren Herbstmorgen, in
der Rykestraße mit ihren breiten Bürgersteigen und dem flüchtigen Duft aus
einem asiatischen Restaurant in der Luft, beginnt der Kleinkrieg. Völlig
unerwartet.
Eine Gruppe von zehn, zwölf Menschen -
Journalisten, Politiker, Künstler, einige von ihnen aus Deutschland, die
anderen aus Israel - gehen mit einem Stadtplaner das Pflaster hinunter. Sie
sind zu einer deutsch-israelischen Konferenz nach Berlin gekommen und lassen
sich erklären, wie sich Prenzlauer Berg verändert hat. So wie das so vielen
Gruppen aus Spanien, Italien und Griechenland erklärt wird - und nein, um diese
Frage gleich zu beantworten, an diesem Morgen hat all das, was nun passiert,
nichts damit zu tun, dass es auch ein paar Israelis sind, die sich die Rykestraße
zeigen lassen. Sie sind: 'Touristen'. Allein deshalb werden sie verachtet. Sie
sollen sich schleichen, wo immer sie auch herkommen, und wenn nur West-Berlin
ihre Heimat ist, auch das ist hier ja irgendwie schlimm.
Die Jungs und Mädchen, die ein bisschen
betrunken auf einem Boule-Platz an der Rykestraße wie spielende Löwenjunge
lauern, sie richten sich auf zum Revierkampf, als die Gruppe der Berlin-Gäste
an ihren Parkbänken vorbeizieht. Sie pöbeln gegen die, die sie für Fremde
halten, machen sich wichtig, schubsen und wollen die Menschen, die sich für
Berlin interessieren, aus Berlin vertreiben. Weil die eben Touristen sind. Was
an diesem schönen Morgen in Prenzlauer Berg passiert, ist lächerlich. Und
leider abstoßend.
'Haut ab.' Unvorstellbar in New York und
London, oder?
Einige Zeit später kann sich Ares
Kalandides, der Stadtführer und Stadtplaner, der mit den Gästen an den Pöblern
vorbeizog, immer noch nicht beruhigen. Er wohnt hier, gleich um die Ecke der
Rykestraße, und er sagt: 'Es war so, als ob ich abends nach Hause komme, und da
sitzt einer in meinem Wohnzimmer und beschimpft mich.' So hat es ihn
zusammenfahren lassen, und: 'Ich fand es bedrohlich.'
[….] Er sagt: 'Es gibt ein Klima in Berlin, das
es erlaubt, Touristen grundsätzlich zu beschimpfen, das ist salonfähig, und die
jungen Leute an der Rykestraße, die leicht angetrunkenen Zwanzigjährigen, haben
das kollektive Unterbewusstsein ausgedrückt. So einfach ist das.'
Schwierig, Weltstadt zu sein, wenn man
die Welt nicht mal zu Besuch haben will.
[….]
Zu diesem Spiel gehört auch, dass im
Frühjahr Spätzle auf Käthe Kollwitz geworfen wurden, auf das Denkmal auf dem
Platz, der ihren Namen trägt. Manche kannten die Künstlerin, die Bildhauerin,
ja damals noch, sie wohnte hier mit ihrem Mann, einem Armenarzt. Thierses alter
Nachbar zum Beispiel, der den schönen Namen Herr Schätzchen trug, hatte sie
noch erlebt, und erzählte Thierse von Kollwitz.
(Jochen Arntz, SZ vom
22.11.2013)
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