Montag, 12. Mai 2014

Ein Schwank aus meinem Leben

Samstagabend schleppte ich noch ziemlich spät meinen welken alten Körper vor die Haustür, weil ich den Nudel-Reis-Schrank aussortiert hatte und circa eine Tonne abgelaufener Lebensmittel wegschmeißen wollte.
Da Gott sich gar fürchterlich über Conchita Wurst grämte, strafte er die Hamburger ESC-Party mit schweren Regengüssen; ich mußte also sehr schnell zur Mülltonne.
In dem Modder vor der Haustür fand ich eine halb aufgelöste DHL-Benachrichtigungskarte. Offenbar hatte ein Bote sie einfach irgendwo draußen an die Tür gepappt und dort löste sie sich durch die allgegenwärtige Nässe ab.
Erstaunlicherweise stand MEIN Name drauf. Ein echter Zufall also, daß ich die Karte überhaupt gefunden hatte. Von Zustellungsversuch selbst hatte ich nichts mitbekommen, aber ich halte es ohnehin für ein Gerücht, daß Paketboten die Zeit haben bei jedem Paketempfänger zu klingeln.

Abholen sollte ich die Sendung zwei Straßen weiter im Sonnenstudio „Sun“ (kein Witz, das heißt wirklich so).
Da ich mir NIE irgendetwas an meine Adresse schicken lassen, rätselte ich natürlich das ganze Wochenende was das bloß sein könnte.
Heute Vormittag fuhr ich zu der angegebenen Adresse und stand vor verschlossener Tür. Sonnenstudios machen erst später auf.
Aber man hat ja sonst nichts zu tun und so konnte ich einen weiteren nachmittäglichen Besuch einplanen.
Dort überreichte mir eine extrem blasse hellrothaarige Frau, die offenbar Sonne genauso liebt wie ich (meine Hautfarbe changiert zwischen Vampir und Kalkweiß) ein XXXL-Paket.

Apollon, nun muß ich wohl zweimal gehen, schoß es mir durch den Kopf, da ich just vom grocery shopping kam. Allerdings wog das Paket lediglich ein paar Hundert Gramm. Sehr eigenartig. Was IST das bloß, fragte ich mich erneut.
Zuhause riss ich als erstes, wie ein Kleinkind bei der Heiligabendbescherung den Pappkasten von „Sanimed“ auseinander.
Darin befand sich in erster Linie Bläschenfolie, zerknülltes graues Packpapier und auch einige dieser modernen Riesenluftkissen-Verpackungswülste.
Aha, ein Fake. Irgendjemand will mich verarschen.

Als es ans Aufräumen ging, entdeckte ich aber doch noch ganz unten eine echte „Ware“: Eine „HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm“.
„HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm“ kennt Ihr nicht? Macht nichts, erkläre ich Euch.


Dabei handelt es sich um eine Matratzenauflage für inkontinente Menschen, eine sogenannte „textile Bettschutzeinlage.“
Wer schickt mir sowas? Und weshalb?

Nach einer Stunde telephonieren hatte ich das Rätsel gelöst:
Ich betreue einen Herren, der als Pflegefall allein in seiner Wohnung lebt. Da er mittelgradig dement ist, habe ich schon vor Jahren bei seiner gesetzlichen Kranken- und Pflegekasse meinen Namen als Kontaktadresse angegeben.
Der gute Mann wird von zwei Pflegediensten versorgt.
Da ist einmal der normale medizinische Pflegedienst, welcher die Grundpflege übernimmt. Der Patient ist vollkommen bettlägerig und muß daher im Bett gewaschen und gewindelt werden.
Das nennt man beispielsweise „große Morgentoilette“ und ist bei dementen Menschen, die nicht mitarbeiten können sehr zeitaufwändig. Eigentlich jedenfalls.
Uneigentlich können wir uns das als Gesellschaft nicht leisten.

Ambulante Pflegedienste halten ihre Mitarbeiter an, immer schneller zu arbeiten. Die ohnehin knapp bemessene Zeit für die alten Menschen schrumpft damit weiter. [….] Das zeigt ein Gutachten, das der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag in Berlin vorstellte. Waren etwa für die "große Morgentoilette" - also für Hilfe beim Aufstehen, Anziehen, Duschen und Frisieren - ursprünglich 45 Minuten vorgesehen, so blieben die Pflegekräfte heute nur etwa 20 Minuten bei den alten Leuten.
Die Pflegedienste müssten ihre Mitarbeiter anhalten, schneller zu arbeiten, weil sie sonst nicht wirtschaftlich überleben könnten, sagte Verbands-Geschäftsführer Werner Hesse. Laut Gutachten ist die Vergütungen der Dienste im Schnitt um 48 Prozent zu niedrig.

Dieser Pflegedienst kostet zwischen 1.600 und 2.000 Euro im Monat – abzüglich der 450 Euro von der Pflegekasse (Stufe I).


Der Patient selbst ist übrigens mittellos. Die Verwandten müssen zahlen.
Da dieser Grundpflegedienst immer in Hektik ist über die physische Grundversorgung hinaus zu nichts Zeit hat, tue ich das was man in der Situation eigentlich tun muß: Ich engagierte einen zweiten Pflegedienst, der eher ein Gesellschaftsservice ist. Die Damen kommen zwei mal die Woche je zwei Stunden, um all das zu erledigen was liegen geblieben ist: Wäsche waschen, Küche aufräumen – und zwar zusammen mit dem Pflegebedürftigen. Sie nehmen sich Zeit ihn auch mal zu massieren, einzucremen oder sich einfach zu unterhalten.
Das kostet weitere 400 Euro im Monat.


Damit ist natürlich noch keineswegs das leibliche Wohl abgedeckt.
Einkaufen, kochen, mit Lebensmitteln versorgen hat die nicht vorhandene Familie zu organisieren.

Zurück zu meinem Paket.
Der Grundpflegedienst hatte eine vom vielen Waschen zerschlissene Molton-Matratzenauflage moniert und dies schriftlich der Krankenkasse, der Barmer GEK gemeldet.
Die Barmer-Geschäftsstelle in Hamburg-Hammerbrook prüfte dann Angebote. (Dabei handelt es sich um einen Allerweltartikel, der in jeder Drogerie und jedem Supermarkt erhältlich ist!)
Fündig wurde sie bei dem Anbieter „Sanimed“ in Ibbenbüren.

Die Bergbaustadt Ibbenbüren ist eine Mittelstadt in der Region Tecklenburger Land (Kreis Steinfurt) im nördlichen Teil des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Mit rund 51.000 Einwohnern ist sie die größte Stadt im Tecklenburger Land sowie die zweitgrößte im Kreis Steinfurt.
(Wiki)

In Ibbenbüren also ging die Bestellung ein und die Verpackungsarie begann.
Das aufgeblasene Monsterpaket wurde zur DHL-Filiale gebracht, nach Hamburg geschickt, landete erst kurz bei mir, dann einige Straßen weiter im Sonnenstudio „Sun“, schließlich wieder bei mir.
Zu mir, weil ich die offizielle Kontaktperson des Krankenkasse bei Briefverkehr bin.
Ich muß nun erneut losfahren und diese Bettauflage schleunigst in die Wohnung bringen, in der sie benötigt wird.

Ein sagenhafter Verwaltungsaufwand für so einen Grundpflegeartikel, wie ihn jeder Pflegedienst hundertfach verbraucht.
Natürlich hätte man die „HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm“ auch direkt in die Wohnung des Patienten schicken können. Oder zumindest an die Geschäftsstelle des Pflegedienstes. Aber warum eine Spur einfacher, wenn es auch maximal kompliziert geht?

Muß dieses Bohei gemacht werden? Wieso gehören diese stinknormalen Moltonauflagen nicht zur pflegerischen Grundausstattung, die wie Einmalhandschuhe oder Feuchttücher von den Diensten en gros gekauft werden und in jedem Wagen vorrätig sind.
Rechtfertigt der hohe Preis eine bürokratische Tortur über acht verschiedene Stationen?
(Patient -> Pflegedienst -> Krankenkasse -> Sanimed -> DHL -> Tammox -> Sun-Studio -> Tammox -> Patient)

Da kann man geteilter Meinung sein. Morgen gehe ich zur Bank und überweise €2,55.
ZWEIEUROFÜNFUNDFÜNFZIGCENT.


Natürlich ist es völlig indiskutabel wie 1,5  Millionen Pflegebedürftige in Deutschland behandelt werden. Natürlich ist es abartig und pervers wie Millionen Angehörige in dieser Situation, die den Staat finanziell enorm entlasten, indem sie eine Pflege zu Hause ermöglichen, im Stich gelassen werden.

Natürlich ist es ein Treppenwitz, daß die unhaltbaren und menschenunwürdigen Zustände in der Altenpflege seit vielen Jahren wohlbekannt, wohldokumentiert und wohldiskutiert sind, aber dennoch konsequent ignoriert werden, bis Undercover-Geront Wallraff eine RTL-Reportage dazu produziert.

Vor fünf Jahren zitierte ich aus einem Interview mit ihm und in der halben Dekade ist es nur noch schlimmer geworden.

Jens Berger beschreibt heute wer unter FDP-Herrschaft auf der sicheren Seite ist:

Auf der Ausgabenseite will und kann man nicht sparen – schließlich gehören Ärzte und Apotheker zur Stammwählerschaft der FDP und auch die Gesundheits- und Pharmaindustrie kann fest darauf zählen, dass Schwarz-Gelb ihnen bei ihrem Renditestreben nicht in die Parade fährt.

Das nächste Beispiel für die Milliarden, die auf Kosten der Allgemeinheit an die Pharmamafia verschoben werden, entnehme ich einem SZ-Gespräch mit Klaus Fussek:

Fussek:
Ich gebe Ihnen ein Beispiel, von dem mir kürzlich erst ein Notarzt berichtete. Er kam zu einer ausgetrockneten Frau in ein Pflegeheim. Die Frau hat offenbar nichts zu trinken bekommen weil zu wenig Pflegkräfte da sind. Er legt ihr eine Infusion und hätte dann jemanden gebraucht, der zwei Stunden darauf achtet, dass die Infusion auch durchläuft. Es fand sich niemand.

sueddeutsche.de:
Und dann?

Fussek:
Der Arzt lässt die Frau ins Krankenhaus bringen. Das kostet hin und zurück 1000 Euro. Die Frau wurde drei Tage durchgecheckt, um eine Diagnose stellen zu können. Da geht es wieder um Tausende Euro. Ein Irrsinn, wenn man dagegenhält, was eine Pflegefachkraft gekostet hätte, die sich zwei Stunden zu der Frau gesetzt hätte.

sueddeutsche.de:
Die wäre aus einem anderen Topf bezahlt worden.

Fussek:
Genau das ist das Problem. Es ist unverantwortlich, Krankenkasse und Pflegeversicherung zu trennen. Beides gehört zusammen. Prävention, akute Versorgung, Nachsorge und Pflege - das gehört alles in eine Hand.

Wieso ist dieser Irrsinn möglich?
Daß Milliarden verpulvert werden, um wenige reich zu machen?

Weil die Deutschen Wähler leider zu doof sind, um diese Mechanismen zu erkennen und sich stets Pharma-freundliche Parteien heran gewählt haben.

Nach fünf weiteren verplemperten Merkel-Jahren ist die Situation angespannter denn je.

Mit dem fromme Hermann Gröhe erkor Merkel einen zuständigen Gesundheitsminister, der garantiert 100% ahnungslos ist und zu Ungunsten der Patienten vor der Pharma-Lobby kriecht.

So will es der Urnenpöbel. Bloß keine Veränderungen.
Außer wenn sie zwischen GZSZ und DSDS von RTL drauf gestoßen werden. Dann regt sich kurz Unmut.

Was eine Reporterin von RTL mit versteckter Kamera in einem Münchner Pflegeheim gefilmt hat, soll personelle Konsequenzen haben. "Das war Misshandlung" - so kommentiert Siegfried Benker, Geschäftsführer des städtischen Altenheimträgers Münchenstift, die Bilder, die in der Sendung "Team Wallraff" aus dem Haus St. Josef zu sehen waren.
Gezeigt wurde etwa ein Pfleger, der einen dementen, sich wehrenden Bewohner aus dem Bett zerrt, um ihn zum Essen in einen Rollstuhl zu setzen; man sah Pfleger, die einen schwer kranken Patienten so stark am Körper abrubbeln, dass Verletzungsgefahr besteht; gefilmt wurde eine Pflegerin, die eine aus dem Bett gefallene Frau, hilflos auf einem Kissen am Boden liegend, mit ihrem Handy fotografiert.
"Mit Erschrecken" habe er dies am Montagabend gesehen, sagte Benker am Dienstag. Bewohner seien offenbar "würdelos und wenig wertschätzend behandelt" worden. Solche Vorkommnisse würden "absolut nicht toleriert", er werde "sehr scharf reagieren". Für die im Film gepixelt zu sehenden Mitarbeiter werde das Gezeigte "zu unmittelbaren personellen Konsequenzen führen".
Ein Bewohner hatte starke Hämatome unter beiden Augen
RTL schickt eine Reporterin mit versteckter Kamera in Pflegeheime. Die Sendung widersteht größtenteils der Versuchung, die Dramen noch zu inszenieren - die Fernsehzuschauer bekommen trotzdem eklatante Missstände zu sehen.
Das entspreche den internen Regeln. […]  

Niemand kommt gegen die Pflegemafia an, solange die politische Klasse sie achselzuckend gewähren läßt.

Das fehlende Geld und die absurde Verteilung desselben (minimale Gehälter für die Pflegekräfte, Milliardengewinne für die Heimbetreiber) sind bekannte Probleme.

Das Beispiel HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm zeigt aber auch wie absurd die Organisationstrukturen sind.
Wie viel Energie und Geld wird dabei verschwendet?
Warum haben die Pfleger nicht wie sonst einen Zettel für mich hinterlassen, auf dem steht „Bitte besorgen Sie HAR 155804/2 MoliNea Textile Classic 75 X 85 cm,…“?
Ich hätte das Teil in den nächsten Tagen mitgebracht und all die anfallenden Personalkosten bei Sanimed, Krankenkasse, Versand und Pflegedienst hätte man besser für die Zeit beim Patienten aufgebracht.

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