Mittwoch, 12. August 2015

Flüchtlinge in Zahlen.



Das Elend der Welt wird uns in Zahlen präsentiert.
Je größer die Zahlen, desto abstrakter. Wenn genügend Nullen hinten dran sind, ist es auch irgendwann egal.
Matthias Drobinsiki, der SZ-Haustheologe schrieb neulich in einem kleinen Chronik-Kasten über den TVE-Skandal der Bischofssitz sollte im Jahr 2012 auf einmal 9,5 Milliarden Euro kosten.


Vermutlich nur ein Druckfehler, aber es ist schon symptomatisch, daß es in so einer renommierten Zeitung niemand aufgefallen ist
Millionen, Milliarden, Billionen – da kommt man schon mal durcheinander.

Menschen können wir noch viel weniger in Zahlen  begreifen.
100 Tote, die im Mittelmeer ertranken, weil unsere beliebtesten Politiker ihnen die EU-Tür vor der Nase zuschlagen, bringen es kaum noch auf die vorderen Plätze der Tagesschau-Meldungen. Da müssen es schon eher 1000 angespülte Leichen sein.
 Bei 23.000 durch die EU-Politik Verreckten läuten sogar mal die Kirchenglocken – freilich, ohne daß es irgendwelche politischen Konsequenzen gäbe.
Die Kirchen läuten aber eben auch nur. Der Einsatz für die Toten ist gute PR.
Eigene Mittel will die Kirche aber nicht ausgeben und schon gar nicht ihre vielen verwaisten Pfarrhäuser und Klöster als Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung stellen.
Dazu sind die Zahlen zu groß.
Es würde die Kirchen überfordern, sagen sie.
Mit der Argumentation könnte man es sich auch sparen einen ölverschmierten Seevogel das Gefieder zu säubern und ihn so vor dem sicheren Tod zu bewahren- die Ölpest selbst wird ja schließlich nicht mehr verhindert.

So nehmen wir auch die Millionen Menschen hin, die jedes Jahr elend an Hunger verrecken.
Es sind 10.000 -20.000 Kinder, die jeden Tag auf der Welt verhungern. Früher waren es mal 30.000 JEDEN TAG. Wer weiß das schon so genau? Wer zählt nach? Was zählt ein Kind überhaupt? Insbesondere wenn es ein Afrikanisches oder Nordkoreanisches ist? Das sind dann keine Gründe für „den Westen“ seine Agrarpolitik dahingehend zu ändern, daß der Hunger beendet werden könnte.

Laut des letzten „World-Food-Reports“ steigt die Zahl sogar wieder. Sie kennen die Zahlen, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 57.000 Menschen sterben am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen jeden Tag und fast eine Milliarde Menschen sind permanent schwerstens unternährt.
Das sind riesige Zahlen. Dafür öffnet Papst Franz nicht die Kassen des IOR, dafür gefährdet der fromme Wolfgang Schäuble, der am 06.09.15 in einer Elsässischen Kirche predigen wird, nicht seine heilige schwarze Null.

Im Juli 2015 kamen 5.700 Flüchtlinge nach Hamburg.
Im gesamten Jahr 2014 waren es 7.000 in Hamburg, die neu kamen.
Bundesweit werden dieses Jahr womöglich 400.000 Asylanträge erwartet.
Die Sachsen-CDU zeigt sich mal wieder als ganz Rechtsaußen und begrüßt Grenzzäune gegen diese „Menschflut“.
Auf daß noch mehr Menschen in den Tod getrieben werden, wenn ihnen keine legalen Ausreisemöglichkeiten aus ihren Terrorländern bleiben.
Politiker und Journalisten sprechen leichtfertig von „Belastungsgrenzen“, die durch die Flüchtlingsströme, Asylantenflut oder den Massenandrang erreicht werde.
Über 200 Anschläge gab es dieses Jahr schon auf deutsche Flüchtlingsunterkünfte.
Tendenz stark steigend.
Die beliebteste Bundeskanzlerin aller Zeiten führt währenddessen eine „völlig gegenwartsblinde“ Regierung, die die Problematik einfach ignoriert.

Es fällt vergleichsweise leicht indolent und ignorant zu reagieren, wenn Menschen  als Massen, Fluten oder Ströme wahrgenommen werden.
Wenn sich ihre Schicksale hinter Zahlen mit vielen Nullen verstecken.
Es interessiert uns schlicht und ergreifend nicht, daß alle fünf Sekunden ein Kind verreckt, weil wir, der reiche Westen nach wie vor die ärmeren Länder massiv ausbeuten.
Doppelt so viel Geld fließt von der dritten in die erste Welt wie umgekehrt.

Ganz anders sieht es bei Einzelschicksalen aus.
Während uns 1000 oder 10.000 oder 20.000 tote Kinder vollkommen egal sind, wird unser Mitgefühl sofort getriggert, wenn von einem „tragischen“ Einzelfall die Rede ist.
 Das arme weinende Mädchen Reem als Palästina, das die gefühllose Kanzlerin zum Weinen brachte, rührte uns.
Wenn ein Kind mitten in Deutschland vermisst wird und jeder es zur Kenntnis genommen hat, weil BILD und TV-Boulevard tränenrührig davon berichteten, weinenden Eltern abfilmten und süße Bilder zeigten, werden auf einmal alle ganz aktiv.
Tausende melden sich freiwillig zu Suchaktionen.
Als 2012 in Hamburg die süße kleine Chantal, 11, starb, weil das Jugendamt sie zu Pflegeeltern gab, die Ex-Fixer waren und ihr versehentlich eine Überdosis Methadon verpassten, wurde über viele Monate auf den Titelseiten der gesamte Hamburger Presse berichtet. Jeder kannte das Bild des blonden Mädchens, für das sich zu Lebzeiten leider niemand interessiert hatte.

So sind die Menschen. Sie brauchen einen persönlichen Zugang. Eine boulevardisiert-personalisierte Aufbereitung einer Geschichte.
Nur dann hört man beim Einkaufen wie alle von der „armen kleinen Sophie“ oder dem „armen kleinen Kevin“ reden. Dann kommen die Menschen um vor ehrlichem Mitleid. Ich meine das völlig unironisch; tatsächlich leiden wir dann mit.
Daß gleichzeitig zig Familien auseinandergerissen und zerstört werden, weil die meisten Bundesländer rigoros abschieben oder im umgekehrten Fall keine Familienzusammenführungen zulassen, interessiert uns hingegen nicht, weil wir das gar nicht mitbekommen.

Das ist so wie mit dem Konflikt in der Ostukraine, der sich aus unserem Bewußtsein geschlichen hat.
Dort wird zwar weiter gemordet und Krieg geführt, aber wir richten unsere Aufmerksamkeit derzeit auf andere Dinge.

Eine Mitschuld trifft die Presse, die zwar richtigerweise von den vielen Problemen mit Flüchtlingsunterkünften und den widerlichen Angriffe auf dieselben berichtet – Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping schämt sich öffentlich für ihr eigenes Volk – aber so wird den Deutschen das Thema emotional nicht nahe gebracht.

Ich freue mich daher sehr über die wenigen Ausnahmen.
Es gibt durchaus TV-Dokus, die einzelne Flüchtlinge vorstellen, ihr Schicksal begreifbar machen und sich Zeit nehmen es dem Zuschauer nahe zu bringen.

Die Perspektive der geflohenen Menschen fehlt fast vollständig in der öffentlichen Debatte. Wie empfinden sie ihre neue Umgebung, die Lebensbedingungen? Was haben sie erlebt? Wie geht es ihnen?
Nur so kann man Empathie wecken.

Eine löbliche Ausnahme war auch der Bericht von Yahya Al-Aous in der Wochenendausgabe der SZ; prominent platziert auf der Kommentarseite, wo sonst Carolin Emcke schreibt.
Der Syrische Journalist, 41, zwei Jahre in Haft des Assad-Regimes, ist mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter, 9, in Berlin gelandet und beschreibt seine Eindrücke.
Ein hochinteressanter und überfälliger Perspektivwechsel in der deutschen Presse.
Bitte mehr davon!!

[….] Eine Variante der neuen Realität erwartete mich und meine neunjährige Tochter in Berlin an einer Bushaltestelle. Wir wollten zurück in unser Übergangswohnheim, als mein Blick auf ein junges Liebespaar fiel. Die beiden tauschten heiße Küsse in inniger Umarmung aus - als seien sie allein auf der Welt. Zum ersten Mal sah ich so eine Szene in der Öffentlichkeit - und es überraschte mich. Noch mehr überraschte mich aber, dass die anderen Wartenden das Geschehen nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen schienen.
Nur meine Kleine starrte das Paar an - mit einer Mischung aus Überraschung und Schüchternheit. Automatisch legte ich meine Hand auf ihre Augen, dann schob ich meinen Körper als Sichtschutz zwischen die Liebenden und mein Kind. Meine Reaktion war auch ein Schutz meiner selbst: Ich wollte meine Frau und mich vor einem kindlichen Fragesturm schützen. Denn meine Frau und ich fühlen uns noch nicht bereit, derartige Situationen erklären zu können. Also blieb mir nichts anderes übrig - vorerst.
Obwohl ich nicht aus einem besonders religiösen oder konservativen Umfeld stamme, so komme ich doch aus einer Gesellschaft, die Frauen als Bürger zweiter Klasse betrachtet und emanzipierte Mädchen, die sich weder von der Familie noch der Gesellschaft etwas vorschreiben lassen, Prostituierten gleichstellt. In Syrien wäre es nicht vorstellbar, dass eine Frau öffentlich küsst - auch nicht ihren Ehemann. [….] Wenn die Sonne scheint, bemerke ich, dass meine Augen sich angezogen fühlen von diesen jungen Männern und Frauen, die sich fast nackt und oft komplett tätowiert zeigen - genauso wie vom Anblick der Menschen, die sich die Nasen und Ohren mit großen Metallstücken verstopfen. Leider bringt meine Fantasie mich immer wieder in eine imaginäre Szene, in der sich diese Männer vor mir aufbauen und mit einer abgebrochenen Bierflasche vor meinem Gesicht rumwedeln und Unverständliches brüllen. Mittlerweile glaube ich aber, dass das nicht passieren wird. Der Körperschmuck ist einfach Ausdruck einer anderen Kultur, an die ich mich bald gewöhnen werde. Ob dieses Deutschland mit seinen Integrationsmaßnahmen auch dafür sorgen wird, dass ich mir eines Tages den Hals tätowieren und die Ohren durchstechen lasse? [….]

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