So ca 2013 muss das gewesen sein. Mein Vater hatte eine
Lungenentzündung verschleppt, weil Monsieur natürlich nicht ins Krankenhaus
geht und landete auf der Intensivstation des UKE.
Das war eine doppelt interessante Erfahrung für mich als
Besucher. Ich kannte bis dahin nur die kardiologischen Intensivstationen.
Der arme Mann war total hinüber auf der
Thorax-Röntgenaufnahme sah man nur noch eine weiße Fläche. Bis dahin wußte ich
gar nicht, daß es Pneumonien auch ohne Fieber gibt. Das war die erste erstaunliche
Erkenntnis. Mein Vater lag im tiefen Koma. Die totale Apparatemedizin mit
Dutzenden Schläuchen, die einen tot erscheinenden Körper beatmeten und die
Brustkorb hoben und senkten.
Noch verblüffter war ich aber, daß mich eine
Krankenschwester reinholte, sich mit mir an sein Bett setzte und ausführlich
jedes medizinische Detail erklärte. Anschließend holte sie den Stationsarzt und
forderte mich auf alle Fragen zu stellen.
Der Gesundheitszustand meines Vaters war gruselig, aber von
der Betreuung war ich geradezu begeistert. Seit wann kümmert man sich so
mitfühlend und geduldig um die Angehörigen?
Wie sich rausstellte, wußten die Jungs und Mädels des UKE
auch was sie taten und nach wenigen Tagen kehrte das Leben in ihn zurück.
Man verschob ihn auf die IMC-Station und nur einen weiteren
Tag später auf die normale Station. Endlich genug Platz am Bett und ich rückte
mit seinen persönlichen Dingen an – Brille, Lesestoff, Uhr, Blocks, Stifte.
Unglücklicherweise fand ich ihn nicht mehr. Der Mann war
verloren gegangen.
Typisch mein Vater; er sprach schlecht deutsch, konnte sich
keine einzige Telefonnummer merken und war ohne mein Wissen in ein anderes
Krankenhaus verlegt worden.
Bei geriatrischen Fällen fackelte das UKE offenbar nicht
lang und hielt sich nicht damit auf Angehörige zu verständigen, sondern schob
sie in das „Evangelische Krankenhaus
Alsterdorf“ ab. Mit denen besteht offenbar ein Kooperationsvertrag?
[….] Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf ist akademisches
Lehrkrankenhaus des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und versorgt
Patienten in sieben Fachbereichen. Es gehört zur Evangelischen Stiftung
Alsterdorf. Das Krankenhaus hat als einzige Hamburger Klinik einen besonderen
Versorgungsauftrag für Menschen mit Behinderung. [….]
(EKA)
Alsterdorf also. Das Gebäude war so nagelneu, daß es
draußen noch nicht mal Parkplätze, sondern nur Schotterpisten gab.
Ich fand meinen Vater
auf einer dieser typischen Geriatrien. Dreibettzimmer, beißender Uringeruch,
Movicol-Overkill und kein Arzt zu finden.
Es gab einige dringende Angelegenheiten zu besprechen, weil
die Antikoagulationstherapie unterbrochen war, die aber unbedingt erforderlich
war wegen seiner diversen Ersatzklappen im Herz.
Auf seiner Station gab es aber noch nicht mal ein
Ärztezimmer. Man musste in einen anderen Flügel gehen und dort wie in einem
Gefängnis durch einen kleinen Schlitz betteln, daß man irgendjemand vom
medizinischen Personal sprechen konnte. Ich ahnte das schon und hatte eine
Kopie meiner notariellen Vollmacht dabei, aber selbst damit wurde ich
abgeschmettert und auf die Sprechzeiten am nächsten Tag verwiesen.
An derselben blöden Klappe hatte ich schon mal ein Jahr
zuvor gestanden, als mich mein Orthopäde wegen eines Handgelenkganglions
dringend dahin verwiesen hatte. Dort säße Hamburgs beste Handchirurgin; nur sie
käme für so einen Eingriff in Frage.
[….] Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf ist seit mehr als 20 Jahren
darauf spezialisiert, erkrankte Hüft- und Kniegelenke durch künstliche Gelenke
zu ersetzen. Zu den Spezialgebieten gehören auch Operationen von Schulter,
Hand, Ellenbogen, Sprunggelenk und Fuß. [….]
Die derart patientenfeindliche Behandlung und die unschöne
Kombination aus meiner Privatversicherung und einer Ärztin, die diese grauenvolle
Erkrankung sofort operieren wollte, ließ mich skeptisch werden.
Ich hörte mich ein wenig um, erfuhr, daß im Gegensatz zum
Eindruck der EKA-Leute Handgelenkganglien doch nicht die gefährlichsten Krankheiten
der Welt sind, beschloss zu prokrastinieren und während ich das tat, verschwand
das Ganglion von ganz allein.
Nun ging es aber darum meinen Vater möglichst schnell aus
den Krallen des EKA zu befreien. Der schlechte Ruf der Evangelen kommt nicht
von ungefähr in Hamburg.
[…..] 1863 gründete der ehemalige Michel-Pastor Heinrich Matthias Sengelmann
die "Alsterdorfer Anstalten". Er kümmerte sich zunächst um Kinder mit
geistiger Behinderung, später auch um Erwachsene. Sengelmann legte Wert darauf,
die Kinder in der Schule zu unterrichten und Arbeitsmöglichkeiten für die
Erwachsenen zu schaffen.
Als Sengelmann 1899 stirbt, leben mehr als 600 geistig, körperlich und
seelisch behinderte Menschen sowie 140 Mitarbeiter und ihre Familien in den
Alsterdorfer Anstalten. Die Stiftung ist weit über die Grenzen Hamburgs hinaus
bekannt und Vorbild für andere Einrichtungen der Behindertenhilfe.
[…..] Ein dunkles Kapitel ist die Zeit von 1939 bis 1945. Auch in Alsterdorf
gab es Ärzte, die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie handelten. Das
Krankenhaus wurde Standort der „Alsterdorfer erbbiologischen Gutachterstelle“
und der „Erbgesundheitsdatei“. Kinder verlegte man ins Krankenhaus
Rothenburgsort, wo sie zu medizinischen Versuchen missbraucht wurden; viele
Bewohner wurden zwangssterilisiert. Und mehr
als 600 Bewohner wurden in Konzentrationslager deportiert und dort
ermordet. [….]
Auf den Seiten der Evangelischen Stiftung Alsterdorf heißt
es nur, daß die „Dunkle Zeit“ im Jahr 1981 aufgearbeitet wurde.
[…..] Unter dem Motto „Erinnern für die Zukunft“ gibt es jährlich am 8. Mai
eine Gedenkfeier der Ev. Stiftung Alsterdorf für diese Opfer des Nationalsozialismus.
[….]
So war das mit Hitlers willigen Helfern der Deutschen
Christen (DC): Nach 1945 in paar Jahrzehnte eisernes Schweigen und dann ein
Gedenkfeier mit Gebet und gut ist.
Die Dunkle Zeit kann allerdings bei Evangelen auch mal
länger anhalten. Auch wenn die progressive Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs im
Stiftungsrat sitzt.
Fehrs, die sehr zerknirscht, aber auch sehr vage im Jahr
2019 bekennt, die Diakonie habe Schuld auf sich geladen.
[….] Bei einem Gottesdienst zum Tag der Kriminalitätsopfer in der
Hauptkirche St. Jacobi hat sich Bischöfin Kirsten Fehrs zur Verantwortung der
Kirche in Sachen Gewalt bekannt: „Es gibt an dem Versagen der Kirche nichts,
aber auch gar nichts zu beschönigen. Wir sind schuldig geworden, auch als
Institution.“
Die Bischöfin sagte, dass Kinder in kirchlichen Heimen in den
1950er-Jahren „drangsaliert, geschlagen und erniedrigt“ worden seien: „Einige
der Betroffenen sind hier – ich bin dankbar und finde wichtig, dass sie uns
mahnen, immer wieder.“ [….]
Ja, die grausamen 1950er.
Nun ist ja alles so viel besser.
[….] Die Evangelische Stiftung Alsterdorf ist eine eigenständige Stiftung
privaten Rechts. Sie wird geleitet von einem vierköpfigen, hauptamtlichen
Vorstand. Er wird eingesetzt und kontrolliert vom Stiftungsrat der
Evangelischen Stiftung Alsterdorf. [….]Stiftungsrat:
Uwe Kruschinski, Vorsitzender, Bernd Seguin, stellv. Vorsitzender, Landespastor
Dirk Ahrens, Bischöfin Kirsten Fehrs
[….]Menschen sind unser Leben.« Das
ist unser Leitsatz und so sollen die Menschen unsere Arbeit wahrnehmen: Als
Unternehmen für Menschen. Der unmittelbare Dienst von Menschen an Menschen ist
der rote Faden unserer Arbeit, ganz gleichgültig ob in unseren Assistenz- und
Arbeitsangeboten, in unseren Krankenhäusern, in unseren Schulen, in der Arbeit
für Menschen in sozialen Notlagen, für alte und pflegebedürftige Menschen. [….]
Wie die Pfaffen und Bischöfe das Leitbild „Menschen sind
unser Leben“ verstanden, ist eindeutig christlich.
[…..] Ein Foto aus den 70er Jahren
zeigt die grauenhaften Zustände in den Alsterdorfer Anstalten. Es gab keine
Betreuung. Bewohner wurden wie Gefangene behandelt, geschlagen, gequält,
zwangssterilisiert.
[…..] Wer nicht spurte, wurde geschlagen, isoliert, an Heizkörper oder ans
Bett gekettet. Menschen wurden gedemütigt, als billige Hilfskräfte missbraucht,
mit Medikamenten vollgepumpt. All das ist in Hamburg in den Alsterdorfer
Anstalten passiert. Wer jetzt denkt, hier ist von der Nazi-Zeit die Rede, der
irrt. Wir reden von den 50er, 60er, 70er, ja sogar von den 80er Jahren.
Der heute 72-jährige Werner Boyens ist einer von denen, die durch die
Hölle gingen. „Mein Leben ist nicht die Hälfte wert“, sagt er. Will heißen: Was
ihm widerfahren ist, ist nicht wiedergutzumachen. Zwar hätten sich die
Alsterdorfer Anstalten bei ihm entschuldigt, räumt er ein. Aber das will er
nicht akzeptieren, denn es hätten sich diejenigen entschuldigen müssen, die ihm
das angetan haben. „Aber die leben ja gar nicht mehr“, sagt er.
[…..] Werner Boyens kam 1947 nach Alsterdorf. Er war ein halbes Jahr alt.
Diagnose: Epilepsie, obwohl er, wie er sagt, nie Anfälle hatte. 35 Jahre wurde
er in Alsterdorf festgehalten – bis er 1982 floh. Sieben Jahre hatte er seine
Flucht geplant. Er wollte endlich sein eigenes Leben leben.
Und das hat er dann auch: Er holte den Hauptschulabschluss nach,
heiratete, erlernte zwei Berufe: Bootsbauer und Elektriker. Kinder hätte er
gerne gehabt. Ging aber nicht. Weil er in Alsterdorf gegen seinen Willen
sterilisiert worden war. Heimlich. Weil irgendwer meinte, er wäre es nicht
wert, sich zu reproduzieren.
[…..] Karin Schmüser (88) lebt seit 81 Jahren in der Stiftung Alsterdorf: Sie
erzählt, dass sie geschlagen wurde. Kontakt mit Männern war verboten. Für
„Fehlverhalten“ gab es drakonische Strafen.
[…..] „Abends wurden wir mit dem Fuß ans Bett angekettet, damit wir nicht
weglaufen“, erzählt Boyens. Gebadet wurde nur einmal die Woche. „Und wenn sich
einer von uns nass gemacht hat, hat man uns einfach nur ein bisschen mit dem
Lappen abgewischt.“ Wer den Pflegern nicht aufs Wort gehorchte, wurde
geschlagen. Manche hatten richtig Spaß dabei.
Das Personal hat die „Pflegebefohlenen“, wie die Bewohner genannt
wurden, nicht etwa beim Namen gerufen, sondern mit Nummern. „Ich hatte die
Nummer 967“, sagt Boyens. Weil er aufsässig war, wurde er oft schwer bestraft.
„Packung“, so hieß die Folter. Die Pfleger wickelten ihn ganz dick in Decken,
hoben ihn in eine volle Wanne, so dass sich der Stoff vollsog. So legten sie
ihn auf ein Bettgestell. 14 Tage […..]
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