Gestern Nacht habe ich den aktuellen SPIEGEL durchgelesen.
Die Titelgeschichte taugt so gar nicht als Erbauungslektüre.
[….] Rückzug aus Syrien
Die Kapitulation des Westens wird zur Gefahr für Europa
Die USA ziehen ihre Truppen ab - und die EU schaut machtlos zu, wie die
Despoten Putin, Erdogan und Assad das Bürgerkriegsland unter sich aufteilen. […..]
Vielleicht habe ich mich in den Wochen zuvor etwas zu viel mit dem amerikanischen Aspekt des Desasters beschäftigt, weil die Handlungen Trumps selbst für seine Verhältnisse so extrem dumm und gefährlich sind.
Die SPIEGEL-Autoren wenden den Blick aber auch auf die
Handelnden vor Ort, die total versagende EU und das geschickte
Strippenziehen Putins und Lawrows.
Es ist außerordentlich deprimierend, seit zweieinhalb Jahren
weiß die EU mit wem sie es in Washington zu tun hat, seit Jahren befindet sich
tout Brüssel in der Abhängigkeit Erdoğans. Der Mann hält 3,6 Millionen Syrische
Bürgerkriegsflüchtlinge als Geiseln und erpresst damit 28 andere Staaten, die
seitdem nichts, aber auch rein gar nichts geschafft haben, um auf die
internationalen Krisen einzuwirken, die viel zitierten „Fluchtursachen“
abzuschwächen oder einfach die notleidenden Menschen untereinander zu
verteilen.
Man kann es nicht fassen was sich die EU gerade leistet. Da
wird über einen Brexit gesprochen, der ein zu 100% durch eigene Doofheit selbst
generiertes Problem ist und nur noch als surreale Comedy wahrgenommen wird.
Verhandelt wird auf europäischer Seite übrigens von dem längst abgewählten
Jean-Claude Juncker, weil die neue Chefin Ursula von der Leyen in der Versenkungen
verschwunden ist, sich offensichtlich gar nicht mehr an die Öffentlichkeit
traut seit sie durch eigene Unfähigkeit und eine extra Portion Borniertheit gleich
dreifach mit ihren Kommissaren scheiterte.
Manfred Weber von der EVP-Fraktionsspitze, von der Leyens eigener
Partei also, senkte die Daumen über Sylvie Goulard, weil er Macron eins dafür auswischen
wollte von der Leyens größter Förderer zu sein.
Die neue Kommissionschefin sah es nicht kommen, griff nicht
ein, sprach gar nicht mit der EVP, weil sie nicht nur nicht die geringste
Ahnung hat wie Brüssel funktioniert, sondern sich bis heute auch noch
hartnäckig weigert Leute zu engagieren, die es wissen.
Sie hockt lieber mit ihrer alten niedersächsischen Gang in irgendwelchen
Hinterzimmern und läßt den lieben Gott einen guten Mann sein.
Wenn man das gewaltige Politikversagen des Europäischen
Rates und den nie dagewesenen Sumpf in den USA betrachtet, wenn man
rekapituliert wie die gesamte westliche Welt schmachvoll die Segel streicht und
auf ganzer Front dilettierend vor den Autokraten Erdoğan, Putin, Assad und
Rohani scheitert, kommt man nicht umhin die Systemfrage zu stellen.
DER SPIEGEL, stets ein deutlicher Kritiker Putins, liest sich
derzeit fast wie RT.
[…..] In Syrien passiert, was Putin will
Erdogan und Putin demonstrieren gern ihre Freundschaft. Aber wenn sie
sich nun in Sotschi treffen, fehlt die Augenhöhe: Im Syrienkonflikt ist der
türkische Präsident dem Kremlchef ausgeliefert. […..]
Während aber RT skrupellose Propaganda betreibt, geben die
SPIEGEL-Autoren Christian Esch, Julia Amalia Heyer, Katrin Kuntz, Roland
Nelles, Maximilian Popp, Christoph Reuter, Raniah Salloum, Christoph
Scheuermann und Severin Weiland im Moment nur die Wahrheit wieder: Putin hat
gewonnen. Während die gesamte EU mit fünfmal so vielen Einwohnern und einer
unendlich viel stärkeren wirtschaftlichen Leistung als Russland seit 2010
hilflos vor Syrien steht und nicht die geringste Ahnung hat, was man
unternehmen könnte, ist dem Kreml-Herrn gelungen sich zum ganz starken Mann der
Region aufzuschwingen.
Das SPIEGEL-Titelbild erweckt in der Tat den Eindruck; die
demokratischen Staaten sind die Diktatoren hoffnungslos unterlegen,
kapitulieren und versagen.
Erschwerend kommt hinzu, daß die wenigen Regierungschefs aus
(noch) demokratischen Nationen, die sich international durchsetzen gerade die
sind, die sich zwar noch demokratisch wählen ließen, dann aber massiv die Axt
an die demokratischen Wurzeln ansetzten: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit,
unabhängige Justiz – all das ist in Russland, Ungarn, Polen und der Türkei mehr
als fraglich.
Aber sind solche Staatschefs stark, weil sie ihre
Demokratien in Autokratien umwandeln?
Ich meine nein, sie können das tun, weil die anderen
Demokraten zu schwach und zu heuchlerisch sind.
Man kann natürlich nichts als EU Geld mit Waffenlieferungen
in den Nahen Osten verdienen, die eigene Agrarlobby auf Kosten afrikanischer
Farmer bedienen und die daraus folgenden Migrationsbewegungen einzig und allein
Diktator Erdoğan überlassen und sich ansonsten darauf verlassen, daß
Rechtspopulisten wie Kurz, Salvini und Orban die Außengrenzen hermetisch
abriegeln, jeden ersaufen lassen, der flieht.
Klar, diktatorische Planwirtschaften wie China können
Großprojekte in vergleichsweise atemberaubender Geschwindigkeit umsetzen, weil
sie anders als Demokratien keine Rücksichten auf Bürgerrechte, Sozialstandards
oder Umwelt nehmen müssen.
Aber Putin triumphiert nicht deswegen über den Westen.
Sein Vorteil ist vielmehr, daß er sehr viel intelligenter
als Trump ist, daß er keine Zeit mit der Sorge um Wiederwahl verschwendet und
außerdem nicht unter dem unerträglichen Phlegma einer Angela Merkel leidet. Er
plant langfristiger.
[…..] Putins geniales Spiel
[…..] Putin muss nach der
Kapitulationserklärung Trumps kaum in den Syrienkonflikt eingreifen, es läuft
für ihn auch so alles nach Plan. Durch geschickte Diplomatie und skrupellose
Kriegführung hat er Assad an der Macht gehalten.
Nach dem Rückzug der Amerikaner ist
Russland die einzig verbliebene Großmacht in Syrien. Putin ist in einer
Position, in der er alle anderen Kräfte fortwährend gegeneinander ausspielen
kann.
Während die USA ihre Verbündeten in
Syrien gegen sich aufgebracht haben, hat Russland über die Jahre das Gegenteil
erreicht: Mit Assad und Iran ist Putin ohnehin verbündet. Aber auch die
türkische Führung, die einmal mehr den Kampf gegen die Kurden geschickt
instrumentalisiert, rückte immer näher an Moskau heran. Den Kurden wiederum
bleibt nach dem Einmarsch der Türken keine andere Wahl, als auf Russlands
Vermittlung zu hoffen. Es ist an Putin und an seinem so brillant wie skrupellos
taktierenden Außenminister Sergej Lawrow zu entscheiden, wer welche Gegenden in
Syrien bekommt.
Putin und Lawrow haben im Verlauf
des Krieges nie ausschließlich auf Assad gesetzt, sondern auch mal den Türken
und den Kurden geholfen. Anfang August, bei der 13. Runde der sogenannten
Astana-Gespräche in der Hauptstadt von Kasachstan, bereiteten Moskaus Unterhändler
den entscheidenden Zug vor. Die Gespräche liefen nach Russlands Willen und
Vorstellung, Iran und die Türkei waren mit dabei, die USA und Europa dagegen
nicht. […..] Nicht der Erfolg der türkischen Invasion liegt in
Moskaus Interesse, sondern deren Scheitern. Aber Putin und Lawrow spielen gern
über Bande. Und in der vergangenen Woche ist alles nach Wunsch verlaufen: Putin
antizipierte, anders als Erdoğan, dass sich die Kurden im Falle eines Rückzugs
der Amerikaner und eines Angriffs der Türkei Assad zuwenden würden. Assads
Machtbereich wird nun schlagartig größer. Im Norden Syriens gibt es Ölquellen,
die Geld bringen, außerdem leben dort Hunderttausende Syrer, die Assad, ohne
einen Schuss abfeuern zu müssen, zurückbekommt.
[…..]
(DER SPIEGEL Titelgeschichte,
18.10.2019)
An dieser Stelle muss man sich die alte Weisheit Egon Bahrs vergegenwärtigen.
"In der internationalen
Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die
Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im
Geschichtsunterricht erzählt."
(Egon Bahr)
Putin und Erdoğan sind einst sehr weit auf Deutschland und
die EU zugegangen.
Ihre staatlichen Interessen waren klar: Im Konzert der
Großen anerkannt werden, enge Bindung an die EU und wirtschaftlicher
Aufschwung.
Auf diesen drei Grundlagen hätte Europa sie integrieren und
ins demokratische Lager ziehen können. Schröder und Fischer verstanden das.
Die CDU wollte aber höchstens den dritten Punkt gewähren und
so wurde es zu einem der folgeschwersten Kardinalfehler Merkels, daß sie nach
ihrem Amtsantritt mit dem Kriegsverbrecher GWB paktierte und dafür Russland und
die Türkei maximal vor den Kopf stieß.
Die so Gedemütigten versuchten es noch eine Zeit lang
weiter. Gaben es aber irgendwann auf, orientierten sich stattdessen an
Diktaturen, brachen die offensichtlich zu nichts führenden Demokratisierungsbestrebungen
ab, verkehrten sie ins Gegenteil und sannen schließlich auf Rache.
Sie griffen zu, als sich die Gelegenheit ergab die EU zu
erpressen und staunten wie plan- und wehrlos Brüssel alles geschehen ließ.
Die Erkenntnis, daß die EU so nicht weitermachen kann, ist
alt. Wir brauchen Reformen, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik,
die Abschaffung des erpresserischen Mehrheitsprinzips. Europa braucht eine „Telefonnummer“,
also handlungsbefugte Vertreter, die auf internationaler Ebene agieren.
Stattdessen kochen auch und gerade die Deutschen lieber ihr
eigenes Süppchen, sehen achselzuckend zu, wenn einer wie Macron immerhin
versucht das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und verfallen bis heute in
einen aufgeregten Hühnerhaufenmodus, wenn Trump und Erdoğan plötzlich in Syrien
Tatsachen schaffen.
Syrien? War da was? 2015? Kurden? IS?
Syrien? War da was? 2015? Kurden? IS?
Vier Jahre Zeit verplempert ist die Bilanz der gegenwärtigen
europäischen Regierungschefs.
Ich behaupte aber, es liegt nicht an den demokratischen Strukturen,
daß man hilflos den erratischen Launen Washingtons und sinisterer Autokraten
ausgeliefert ist. Die EU ist immer noch ökonomisch sehr stark und könnte
durchaus kraftvolle Antworten finden.
Die EU hat aber ein gewaltiges Personalproblem.
Überall sitzen hasenfüßige Egoisten in den Staatskanzleien,
die nicht weiter als bis zu ihrer Wiederwahl denken. „Nach uns die Sintflut“
ist das Motto.
Wer noch nicht mal digitale Infrastruktur und Klimapolitik
anfasst, bekommt bei internationalen Großkonflikten erst Recht auf keinen
gemeinsamen Nenner.
Möglich wäre es, wenn es noch weitdenkende international
vernetzte Staatsmänner gäbe.
Wären statt Orban, Merkel, Johnson und Kurz noch Kaliber wie
Helmut Schmidt, Valéry Giscard d'Estaing, Kreisky, Brandt, Gonzalez, Władysław
Bartoszewski, Olof Palme „am Ruder“, bin ich mir sicher, daß sie sich schon
seit Jahren eng abgestimmt hätten, um den lange drohenden Desastern im Nahen
Osten, in der Türkei, in Moskau entgegen zu wirken.
Noch deprimierender ist, daß auch das lange klar ist. Im
letzten Bundestagswahlkampf setzte die SPD mit dem ehemaligen
EU-Parlamentspräsidenten Schulz und dem Außenminister Gabriel ganz auf die
Europäische Karte, versprach Macrons Reformbemühungen zu unterstützen,
international enger zusammen zu arbeiten.
Allein, die Wähler wollten es nicht, straften RRG ab, holten
Antieuropäer ins Parlament und machten erneut eine Märkische Schlaftablette zur
Kanzlerin, die schon in den 12 Jahren zuvor alles liegen ließ.
Durchaus verständlich, daß Deutschland in Moskau und Ankara ausgelacht
wird.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen