Seine Demenz schreitet schnell mit den typischen Schüben voran.
Den wichtigen Schriftverkehr erledige ich inzwischen, ohne
daß er es mitbekommt, aber gelegentlich gehe ich einen Teil seiner Post
weiterhin mit ihm zusammen durch, so daß er das Gefühl hat noch gebraucht zu
werden und die Fäden in der Hand zu halten.
Heute wollte er aber nicht einfach nur so unterschreiben und
begann ein zweiseitiges juristisches Schreiben zu studieren.
Ein aussichtsloses Unterfangen, da er kaum noch einen Satz
zu Ende sprechen kann. Die Konzentration reicht nicht mehr; er fängt mit einem
Gedanken an und hat den Faden schon wieder verloren, bevor der Satz ganz
ausgesprochen ist.
Er nahm also das erste Din-A4-Blatt zur Hand und starrte
drauf.
Man soll Demente nicht korrigieren oder belehren, weil sie
das noch mehr verunsichert.
Also hütete ich mich davor ihn wie einen Deppen dastehen zu lassen; wohlwissend, daß er ohnehin keine Chance mehr hatte inhaltlich zu folgen.
Also hütete ich mich davor ihn wie einen Deppen dastehen zu lassen; wohlwissend, daß er ohnehin keine Chance mehr hatte inhaltlich zu folgen.
Tatsächlich verstand er den Sinn des Ganzen überhaupt nicht,
aber es geschah etwas Erstaunliches: Im dritten Absatz fand er einen Rechtschreibfehler.
Ein Wort hätte außergewöhnlicherweise groß geschrieben werden müssen und stand
dort aber klein.
Daraufhin nahm ich mir den ganzen offiziellen Text vor; es
war immerhin ein von einem Justiziar aufgesetztes offizielles Statement an alle
Aktionäre. Da erwartet man keine grammatikalischen oder orthographischen
Schwächen.
Tatsächlich war auch alles völlig korrekt, aber dieser eine
Fehler, den der alte Herr entdeckt hatte, war wirklich vorhanden.
Demenz ist komplizierter als viele meinen. Es ist nicht bloß
eine kontinuierliche Verblödung, sondern eine ungleichförmige, unvorhersehbare
Angelegenheit.
Auch die Persönlichkeit wird verändert und wenn man gerade
denkt, „so, jetzt ist er völlig gaga“, brechen blitzartig klare Momente durch.
Da ich kein Neurologe oder Hirnforscher bin, will ich gar
nicht erst versuche das zu erklären.
Aber offensichtlich wurde ihm in der Schule so gründlich
gutes Deutsch beigebracht, daß die Regeln auch acht Jahrzehnte später noch
bombenfest sitzen, wenn alles andere schon so verschwommen ist, daß er nicht
weiß wer ihm gegenübersitzt und in welchem Jahr er sich befindet.
Mir gefällt der Gedanke, daß solche Grundpfeiler der Bildung
sich zu einem integralen Bestandteil der Persönlichkeit manifestieren und auch
noch vorhanden
sind, wenn man schon Windeln trägt und mit Gegenständen
spricht.
Als die letzte noch völlig Google-frei aufgewachsene
Generation, ging es mir in der Schule nicht anders.
Im Deutsch-Leistungskurs galt für alle Klausuren – natürlich
inklusive der Abitur-Klausur – daß mehr als fünf Rechtschreibfehler automatisch
die Note „Mangelhaft“ nach sich zogen. Wir hatten schließlich schon elf Jahre
Deutsch-Unterricht hinter uns. Wer dann immer noch nicht perfekte
Rechtschreibung beherrschte, war offenbar falsch in dem Kurs.
Eine „Reifeprüfung“ konnte man jedenfalls nicht mehr
ablegen.
A posteriori erinnere ich mich auch nicht daran, solche
Regeln als streng empfunden zu haben. Das war nun mal Oberstufe.
Ich erinnere mich an meinen strengen, aber sehr freundlichen
und pädagogisch erstklassigen Mathelehrer. Ich war einer von nur einer Handvoll Schülern seines
Grundkurses, der Mathematik als Abiturprüfungsfach hatte. Der Kurs war aber recht
groß und da es sich um einen Pflichtkurs handelte, waren darin auch einige wirklich
schlechte Schüler, die von sich behaupteten „ich verstehe Mathe nun mal nicht!“.
Unser Lehrer wollte das nicht hinnehmen und kümmerte sich mit einer
Engelsgeduld um Diejenigen, die immer zwischen Mangelhaft und Ungenügend
oszillierten.
Immer wieder bestellte er sie an die Tafel, um mit ihnen
zusammen zu rechnen, ihnen ein Erfolgserlebnis zu verschaffen. Er wurde nie
ungeduldig und verstand es die Schlechten gerade eben nicht zu demütigen und
sie vom Haken zu lassen, bevor es ihnen unerträglich peinlich wurde.
Aber natürlich war er in der 12. und 13. Klasse auch in
einem Dilemma, weil es schließlich Abiturstoff gab und er nicht in jeder Stunde
die Grundregeln bis zurück in die fünfte Klasse erklären konnte.
Wer nach all der Engelsgeduld nach acht, neun Jahren auf
dem Gymnasium immer noch nicht die binomischen Formeln kannte oder bei
ähnlichen 100-fach wiederholten Grundkenntnissen scheiterte, konnte eben kein „Ausreichend“
mehr bekommen. Selbst wenn das dramatische Folgen hatte, weil der Schüler
womöglich schon in vier anderen Kursen keine Fünf Punkte erreichte, so daß er
sitzengeblieben wäre, oder womöglich die Schule hätte verlassen müssen, weil er
schon einmal sitzengeblieben war, gab es kein Pardon.
Irgendwann mussten diese Grundlagen nun mal sitzen, sonst gab es kein Abi.
Jedes Jahr ging ein Dutzend Oberstufenschüler vorzeitig von der Schule ab. Und warum auch nicht?
Es gibt auch wunderbare Berufe, die man ohne Abitur und Studium ergreifen kann. Das persönliche Glück hängt davon nicht ab.
Irgendwann mussten diese Grundlagen nun mal sitzen, sonst gab es kein Abi.
Jedes Jahr ging ein Dutzend Oberstufenschüler vorzeitig von der Schule ab. Und warum auch nicht?
Es gibt auch wunderbare Berufe, die man ohne Abitur und Studium ergreifen kann. Das persönliche Glück hängt davon nicht ab.
Die Litanei, die nun folgen muss, kann sich jeder denken: „Niveaulimbo“
an deutschen Schulen.
Ein schreckliches Klischee, wenn sich ältere Menschen über
die Doofheit der Jüngeren echauffieren und darauf beharren, es früher viel
schwerer gehabt zu haben.
In dieser Vereinfachung trifft das auch sicher nicht zu.
Wer mit Klugtelefon, Wikipedia und Google aufwächst, lernt
Rechtschreibung und Grundrechenarten natürlich anders, als jemand, der wie ich
noch nicht mal einen Taschenrechner benutzen durfte.
Aber dafür stellen sich andere Probleme, die ich noch nicht
kannte.
Wie navigiert man sich durch eine unendliche Flut nicht
seriöser und nicht relevanter Informationen?
Außerdem ist Bildungspolitik offensichtlich Moden
unterworfen.
Ich war beispielsweise eine sehr gender-gerechte Generation.
Wir bildeten uns regelrecht etwas darauf ein, daß Jungs und Mädchen nun
durcheinander gewürfelt waren, bei Klassenreisen in einem Zimmer schlafen
durften, daß Jungs Jazzgymnastik und Mädchen Fußball belegten. Ca 20 Jahre
später kam wieder die Geschlechtertrennung in Mode, nachdem man entdeckte, daß
reine Mädchenklassen deutlich besser in MINT-Fächern abschneiden.
20 Jahre vor meiner Zeit wurde in den Schulen sehr viel mehr
auswendig gelernt. Heute 80-Jährige können oft immer noch Dutzende lange
Balladen auswendig aufsagen.
Zu meiner Schulzeit hielt man das stumpfe Auswendigkernen
für völlig überholt. Das fördere weder das Denken noch die Kreativität. Kinder
wären doch keine Roboter.
Heute sieht man auch das unter dem Aspekt der Disziplin
wieder anders, weiß mehr über kognitive Prozesse des Hirns.
Dafür ist eine Regelschlampigkeit eingetreten.
15 Punkte gibt es in Mathe schon, wenn man 80% der Aufgaben
löst und nur knappe zehn Jahre nach meinem Abi bekam ein ehemaliger
Nachhilfeschüler von mir eine „Eins Minus“ für seine Deutsch-Abiklausur und das
Minus auch nur als Abzug für über 150 orthographische Fehler. „Aber die wissen
ja, daß ich da nicht so gut bin.“
Ich staunte nur wie in der kurzen Zeit so eine eiserne Regel
wie „ohne perfekte Rechtschreibung ist die Note immer automatisch mangelhaft“
zu einem „sehr gut Minus“ in Deutsch werden konnte.
Möglicherweise ist der Niveaulimbo doch zu weit gegangen,
wenn in der Berufsausbildung Chefs Privatlehrer engagieren müssen, um ihren
Lehrlingen Grundlagen in Mathe und Deutsch beizubringen.
Wenn sogar schon Verkäufer Abitur haben sollen, weil der
Realschulabschluss inzwischen wertlos ist.
Dissertationen gehen mit Magna Cum Laude durch, wenn Herr
Guttenberg für alle offensichtlich seine Dr.-Arbeit bei Wikipedia zusammenkopiert
hat?
Von der Leyen oder Schavan bekamen ihre Dr.-Titel, obwohl
sie noch nicht mal wissen wie man ordentlich zitiert.
Ich kann das nicht verstehen und werde schon aus Protest zum
Snob. Wenn ich mich durch die Kommentare bei Spiegel.de oder Zeit.de klicke,
nehme ich die Kommentare mit haarsträubender Rechtschreibung gar nicht mehr ernst.
Das ist meine kleine elitäre Rache als Angehöriger einer
Spezies, der als Jugendlicher wenigstens einiges so massiv eingetrichtert
wurde, daß es auch von einer Demenz nicht wegzuwischen ist.
Ich kann es nicht akzeptieren, daß Deutschland sich eine so
verblödete Forschungsministerin leistet, daß die hiesigen Bildungsanstalten
weiterhin kontinuierlich an Niveau verlieren.
10% der in Deutschland Lebenden Erwachsenen sind funktionale
Analphabeten.
Sehr viele davon haben einen Schulabschluss. Ohne lesen und
schreiben zu können. Und das Niveau sinkt weiter.
[…..] Schüler
dreier Ostländer sind die großen Verlierer
2012 gehörten sie noch zur Spitzengruppe - jetzt sind vor allem in
Brandenburg die Schülerleistungen beim zweiten IQB-Bildungsvergleich dramatisch
gesunken. Vor allem Mathe bereitet den Neuntklässlern Probleme.
Fast ein Viertel der Neuntklässler in Deutschland erreicht die
Mindestanforderungen im Fach Mathematik nicht. Das geht aus dem
IQB-Bildungstrend 2018 hervor, der am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Die
Wissenschaftler am Institut für Qualitätsentwicklung (IQB) haben mit der Studie
von der Förderschule bis zum Gymnasium die Kompetenzen der Neuntklässler in den
Fächern Mathe und Naturwissenschaften erhoben. […..] Die
Ergebnisse unterscheiden sich zwischen den Bundesländern teils erheblich: […..] In Biologie, Physik und Chemie muss Berlin als
Schlusslicht herhalten, noch hinter Bremen und Hamburg. Den ersten Platz im
Vergleich der Bundesländer sicherte sich hingegen Bayern, ganz knapp vor
Sachsen. […..] In Mathe ist der Trend zudem in Mecklenburg-Vorpommern,
Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein rückläufig. Auch hier
haben sich die Neuntklässler im Vergleich zur ersten Studie von 2012
verschlechtert.
In den Naturwissenschaften haben neben Brandenburg insbesondere
Sachsen-Anhalt und Thüringen Kompetenzen bei ihren Schülern eingebüßt. Die Zahl
der Schüler, die den Regelstandard erreicht, ist deutlich gesunken. Abstriche
müssen zudem Rheinland-Pfalz, das Saarland und Schleswig-Holstein verzeichnen.
Sachsens Schüler haben sich zumindest in Biologie und Chemie etwas
verschlechtert. Positive Entwicklungen gibt es hingegen kaum. […..]
Heute braucht man keine Rechtschreibung mehr, weil es „Autocorrect“
gibt?
Was für eine Unverschämtheit gegenüber den Teens und Twens,
die auch heute noch fehlerfrei schreiben können.
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