Dienstag, 1. Oktober 2019

Sorglosigkeit

Rita Süssmuth, 82, mag heutigen Teens und Twens kaum noch ein Begriff sein, aber uns Kindern der 1980er war sie außerordentlich präsent als das gute Antlitz des Konservatismus.
Hatte sie doch als Bundesgesundheitsministerin in den Zeiten der AIDS-Krise nie Dagewesenes gewagt. Sie sprach über Schwule und startete Kondomkampagnen.
Das war angesichts des Massensterbens und der nicht vorhandenen Heilungsmöglichkeiten zwar alternativlos, aber man vergisst wie tabuisiert das Thema noch war. Homosexuelle wurden strafrechtlich anders als Heterosexuelle behandelt und die konservativen Regierungschefs jener Zeit, etwa Reagan oder Kohl, nahmen noch nicht mal solche Worte wie „AIDS“ oder „homosexuell“ in den Mund.
Süßmuth wurde zum Star, galt bis ins liberale Lager hinein als wählbar. Bundeskanzler Helmut Kohl musste Angst vor ihr haben. Zum Ende der 1980er wurde er immer unbeliebter und hätte durchaus beim inzwischen legendären Bremer Parteitag von Geißler/Späth/Süßmuth fallen können.
Er räumte seine Konkurrentin aus dem Weg, indem er sie nach oben weglobte auf den in der Hierarchie vorm Bundeskanzler stehenden Posten der Bundestagspräsidentin.
Das hohe Amt übte sie zehn Jahre bis 1998 aus, als die SPD den Zugriff erhielt.

Weiter aufsteigen konnte sie nie, weil sie durch die berüchtigte „Dienstwagenaffäre“ von 1991 unwiderruflich befleckt war.

[….] Am 1. März bestellte Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth den Amtschef der Parlamentsverwaltung, Joseph Bücker, zu sich und eröffnete dem 64jährigen mit dem schmucken Titel eines "Direktors beim Deutschen Bundestag", daß sie ihn kurz vor Erreichen der Altersgrenze wegen Unfähigkeit feuern wolle.
Die Präsidentin sah den internen Parlamentsbetrieb durch Ausfälle des christdemokratischen Direktors erheblich beeinträchtigt, die auch bedingt waren durch Bückers Neigung zu geistigen Getränken. Sie sagte ihrem Verwaltungschef zu, für einen glatten Übergang in die Pension sorgen zu wollen.
Eine gute Woche später (Bücker: "Ich weiß nicht, wer daran gedreht hat") wartete der Stern mit Durchstechereien auf, die an den Iden des März die Hohe Frau beinahe zu Fall gebracht hätten.
Gespickt mit mancherlei Angaben und Akten aus der Bücker-Behörde bauschte die Illustrierte eine, wie der Amtschef jetzt sagt, "Petitesse" aus dem Bonner politischen Alltag zum Skandalheuler auf: Ritas Ehemann, der Geschichtsprofessor Hans Süssmuth, sei als Aushilfs-Chauffeur der Präsidentin in einem der insgesamt drei ihr zur Verfügung stehenden Mercedes-Dienstlimousinen des Deutschen Bundestags widerrechtlich auch privat durch die Lande kutschiert. [….]

Von dem Bücker-Schlag erholte sie sich nie wieder vollständig, weil es die erste (aber keineswegs die Letze!) derartig Affäre Deutschlands war.
Vorher hatte noch kein Mensch über die Nutzung von Dienstwagen, geschweige denn über möglicherweise mitfahrende Eheleute nachgedacht.

Und nun hatte ausgerechnet Süßmuth, das menschliche Antlitz der CDU so gemauschelt? Sich bereichert. Die Wähler betrogen.
Wir konnten es nicht fassen.
Warum tat so eine Lichtgestalt wie Süßmuth das? Die moralische Fallhöhe war doch so groß. Sie konnte doch nicht so doof sein, ihre große Karriere wegen solcher Petitessen zu gefährden.

In vielen Artikeln kursierte der Spin, die Frau wäre ob ihrer Popularität wohl etwas abgehoben, dachte, sie könne sich alles erlauben.
Vielleicht habe man Helmut Kohl, dessen Provinzialität und Bräsigkeit man so verachtete, doch Unrecht getan.
Er mochte ja ein Langweiler aus der Provinz sein, der intellektuell nicht gerade brillierte und kein Englisch konnte, aber den Steuerzahler um ein paar Hundert Mark betrügen? Das täte er eben nicht. Das war dann doch der Unterschied. Kohl würde kleinlich genau jeden Pfenning abrechnen. Ihm ging es ja nicht um Geld, sondern er wollte Bundeskanzler sein.
Es gab ja genügend richtig schmierige CDU-Typen. Dregger, Kiep, Koch, Barschel, Stoltenberg, Lummer, Schäuble, Bohl – denen war alles zuzutrauen.
Aber Kohl war ja ganz oben angekommen, schwebte über Allem. Der hätte es ja wohl nicht nötig in die Kasse zu greifen.

Obschon es nie direkt geschrieben wurde, gab es genügend Geraune über seine Sekretärin Juliane Weber, daß man um Kohls lockere Auffassung von ehelicher Treue wußte. Natürlich hatte auch Kohl Frauengeschichten. Wie alle sehr mächtigen Männer, deren Ehefrauen weit weg sind.
Aber wir waren ja aufgeklärt, keine konservativen Spießer. Es ging uns ja nichts an, wie Top-Politiker ihre amourösen Angelegenheiten regelten. Im Gegenteil, wir waren stolz darauf, daß derartige „schmutzige Wäsche“ im Gegensatz zu den USA keine Rolle spielte.
Sich aber geldwerte Vorteile abzugreifen, war eine andere Sache. Das war kriminell.
Das würde Kohl eben nie tun.

Als zum Ende des Jahrzehnts, Kohl war gerade abgewählt, die gewaltige CDU-Spendenaffäre in Hessen losbrach, war man geschockt. 21 Millionen Schwarzgelder wurden verschoben und perfide als „jüdische Vermächtnisse“ deklariert.
Was für ein Abgrund. Aber die Personen im Zentrum des Sumpfes – Koch, Schäuble, Kanther, Wallmann, Kiep, Casimir Prinz Wittgenstein und Finanzberater Horst Weyrauch waren auch genau die, denen man solche dunklen Machenschaften zutraute.

Schließlich kam das Jahr 1999, als wir alle, die Kohl ohnehin schon 20 Jahre lang verachtet hatten, ihm aber aufgrund seiner geistigen Unbeweglichkeit gar keine Großkriminalität zutrauten, in dieser Hinsicht geirrt hatten.
Helmut Kohl würde sich eben nicht nur „auch“ an diesen Finanz-Mauscheleien beteiligen, sondern er saß sogar wie eine dicke Spinne im Zentrum des Megaskandals und sollte nach 16 Jahren als Bundeskanzler bis zu seinem letzten Atemzug rechtsbrüchig bleiben.
Kohl war auf einmal nicht mehr nur der träge, tumbe Pfälzer, sondern nun auch noch ein Charakterschwein, der sich offensichtlich wohl dabei fühlte das Gesetz zu brechen.

Inzwischen habe ich selbstverständlich jede Naivität abgeworfen und traue auch Toppolitikern potentiell alles zu.

Es gibt zudem diesen neuen niederträchtig-bösartigen Politikertypus, der wie Trump gar keine Skrupel mehr kennt.
Aber bei ihm geht es auch um Milliarden, um Freiheit oder Knast.

Eigenartiger erscheint mir zu sein, wenn Politiker der obersten Spitze, wie zum Beispielsweise Bundespräsident Christian Wulff wegen Petitessen alles riskieren.
Muss man nicht in so einer Lage das Risiko aufzufliegen und alles zu verlieren abwägen gegen den Vorteil mal ein Hotelzimmer bezahlt zu bekommen oder sich um die Bezahlung eines Bobbycars zu drücken?
Wenn ich versuche mich an die Stelle eines  Konservativen an der politischen Spitze zu versetzen, würde ich doch strikt alle kleinen Ungereimtheiten vermeiden.

Boris Johnson ist mies wie Trump, aber nicht dumm wie IQ45.
Der Mann stammt aus den besten Kreisen britischer Eliteunis, ist hochgebildet.
Wieso wird so einer derartig ausfallend, daß sogar seine Geschwister sich öffentlich ehrlich entsetzt von ihm distanzieren?

Prolet Trump hat nie Manieren gelernt, wußte sich nie zu benehmen, mäanderte Jahrzehnte durch die Halbwelt von Pornosternchen und Schönheits-Shows.
Vermutlich wollte er auch die längste Zeit seines Lebens nicht US-Präsident werden. Kein Wunder, daß er Frauen an die Pussy grabbed.

Aber wieso tut der zielstrebige Johnson, der schon lange auf den Regierungschefposten ausgerichtet ist, sowas?

[…..] Als sei der Brexit-Irrsinn nicht genug, häuften sich in den vergangenen Tagen Berichte darüber, dass Boris Johnson in der Vergangenheit in der Gegenwart von Frauen zudringlich geworden sein soll. Und diese Vorwürfe, auch wenn sie bislang nicht bewiesen sind, haben das Zeug dazu, ihn zu Fall zu bringen.
In Manchester, wo Johnsons konservative Partei seit Sonntag ihren jährlichen Parteitag abhält, entgeht praktisch kein Regierungsmitglied peinlichen Fragen nach dem Chef. […..]

Wieso? Wie kann man nur so undiszipliniert sein und solche Dinge riskieren als Toppolitiker?

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