Freitag, 1. August 2014

Impudenz des Monats Juli 2014


Und schon wieder einmal zeigt der Kalender eine „1“ - hohe Zeit für mich den Blödmann des Monats zu küren.

Heute klickte ich mal wieder in meine große Facebook-Gruppe der Putinisten, nachdem ich vorgestern die CSU und gestern schließlich die Teebeutler für die gehirnlosesten Etwasse der Erde hielt.
Man muß nur fünf Minuten die Beiträge dieser Verschwörungstheoretiker-Montagsdemo-Ukraine-Hasser lesen, um schon wieder zu bezweifeln, daß Seehofer oder Palin die dümmsten Menschen der Welt sind.

Ein willkürliches Beispiel von heute:
Die Putinisten mögen scheinbar nicht so wirklich gerne Amerikaner.
 Aber die haben eine differenzierte Ansicht zu Menschen meiner Nationalität:

„Amerikaner, raus aus Deutschland!“ begann ein Thread, der mit diesem Video untermauert wurde.
Kommentare:

HB:
nein ,moslems raus

CT:
Ja und auss ganz Europa rauss !!!!

LLP:
alle Idioten Raus! mir ist echt egal, welche Nationalität ein Mensch hat, hautspache er hat einen gesunden Verstand.

TF:
Ami, go home! [Mit einem Link zu einem Elsässer-Video, der mir echt zu heftig ist, um das hier zu posten]

RP:
Yankee, auf diesem Kontinent ist kein Platz für uns Beide.......

PP:
Ja und DDR samt Gesetze wieder aufmachen, damit wir auch gleich noch die ganze korrupte Seilschaft der Kapitalisten loswerden. Grundversorger wieder in Volkshand, Wälder und Seen in Volkshand, Recht auf Arbeit und Einkommen mit dem man Auskommen kann, vernünftige Renten für alle, vernünftige Mieten, kostenlose Bildung und anständige Krankenversicherung. Dieses Land ist ein Müllhaufen nach Amerikanischem Vorbild

GP:
bitte alle lesen - Perfider Journalismus und Propaganda
Die WELT titelte am 28 Juli 2014: Gespräche mit Putin sind reine Zeitverschwendung - "Die Schandtaten Wladimir Putins können die Europäer nur geeint beenden". Frage mal, von welchen Schandtaten spricht die WELT? Die Foltergefängnisse der CIA und die Blackwater Mörderbanden waren wohl nicht gemeint. [Wieder mit nicht zitierfähigem Link auf eine Verschwörungstherorieseite]

PP:
Ich sag ja, unsere Medien und Politiker sind nur noch ein Haufen verbrecher, subventioniert von einer amerikanisch-deutschen Finanz- und Industrie-Elite die die Russen vom Markt haben will
[Noch ein nicht zitierfähiger Link auf eine Verschwörungstherorieseite]

AvT:
Amis raus,oder bekämpfen!!!

AvT:
nichts an amis vermieten verkaufen und arbeiten.

MB:
Wer die Macht hat,gibt sie nicht wieder her und schon garnicht freiwillig.
(Facebook 01.08.14)

Wenn ich das lese, wird mir selbst ganz mainstreaming und ich sehne mich nach seriösen Informationen, wie sie beispielsweise professionelle Journalisten des SPIEGELs mitsamt ihrer legendären Dokumentation (=Faktencheck) liefern.

Das Schlimme ist nur, daß natürlich ein Kern Wahrheit an den Anti-Mainstreammedien-Bildchen der Putinisten ist.







Und so komme ich zur Impudenz des Monats Juli; dem SPIEGEL.

Zur Erklärung poste ich hier den Brief an die Redaktion, den ich vorhin abschickte.
                      
Lieber SPIEGEL!

In meinem Elternhaus wurde immer DER SPIEGEL gelesen; es war mir so vertraut, daß jeder in der Familie ständig dieses Heft vor Augen hatte, daß ich schon als junger Teenager darum kämpfte das Exemplar meiner Mutter montags vor ihr aus dem Briefkasten zu fischen.
Sie konnte aber so wenig den Montagmorgen ohne SPIEGEL überstehen, daß sie mir bald mein eigenes Abonnement schenke.
Daher bin ich inzwischen knapp 30 Jahre ununterbrochen SPIEGEL-Abonnent.
Ich schätzte den SPIEGEL als meinungsstarkes Medium, das immer wieder insbesondere mit Essays, denen man nicht spontan zustimmen mochte, zum Nachdenken herausforderte.
Es gab beispielsweise zur Wendezeit politische Beobachtungen von Wolf Biermann, die ich bis heute zu den besten Prosatexten des Genres zähle – auch wenn sich Biermann inzwischen politisch sehr weit von mir entfernt hat. Aber das kommt vor. Der SPIEGEL-Essayist Henryk M. Broder war zweifellos auch ein hochbegabter Schreiber, den ich lange Zeit vergnügt verfolgte.
Unglücklicherweise verfiel er kontinuierlich dem schleichenden Wahnsinn bis es nicht mehr lustig war. Seine neue Heimat bei Springers WELT zu finden war konsequent.
Andere Autoren waren leider nur ein Ärgernis. Es hat viel zu lange Jahre gedauert und mir etliche graue Haare beschert, bis endlich der Ex-Kulturchef Matthias Matussek gegangen worden ist. Mich gruselt es immer noch, wenn ich an schlecht geschriebene MM-Titelgeschichten wie die von 2007 über Romy Schneider denke. Aber man soll sich ja auch am Leib- und Magenblatt reiben.
Es ist eine große Redaktion. Da kann man nicht jeden mögen.

Wie Sie zweifellos an ihrer kontinuierlich sinkenden Auflage feststellen werden; 875.000 ist im 82-Millionen-Deutschland ein deutliches Misstrauensvotum; mögen den SPIEGEL immer weniger Menschen.
Im ersten Jahrzehnt des Jahrtausends waren es noch rund 1,1 Millionen verkaufte Hefte.

Seit einigen Jahren wundere ich mich über die abfälligen Reaktionen in den sozialen Netzwerken, die mir von Studenten bei Erwähnung des SPIEGELs entgegen schlägt.
Dort gilt das Nachrichtenmagazin als absolut nicht mehr glaubwürdig.
Natürlich verteidige ich den SPIEGEL, weil ich das Überleben des Qualitätsjournalismus im Internet- und Wikipedia-Zeitalter so sehr wünsche.

Allerdings kann ich den Vorwurf des „Kampagnenjournalismus“ nicht mehr  von der Hand weisen.
In den 1990er Jahren schüttelten wir latent gequält unsere Köpfe über persönliche Animositäten, die vom SPIEGEL gepflegt wurden. Dabei überspannte die Brandstwiete den Bogen bei den Herren Gysi und Stolpe bis in ein lächerliches Maß. Der hundertste Versuch den Brandenburgischen Ministerpräsident aus dem Amt zu schreiben, war nur noch ermüdend.

Das erste Mal ernsthaft sauer wurde ich in der Zeit als der Hauptstadtbürochef Gabor Steingart sich mit STERN-Jörges die Bälle zuspielte und jede Woche geradezu manisch gegen die Rotgrüne Bundesregierung schrieb.
Jeden Montag mußte man seinen Lieblingsausdruck vom „schrumpfenden produktiven Kern Deutschlands“ wieder lesen. Und dann folgte das unweigerliche Loblied auf den totalen Neoliberalismus à la Westerwelle.
Es war nur zu verständlich, daß der SPIEGEL in jener Zeit seine Bedeutung als „Leitmedium“ für die Hälfte der ursprünglich zwei Drittel der deutschen Journalisten verlor.
Man muß fast dankbar für die Weltfinanzkrise von 2008/2009 sein, da sie endlich die Steingartsche Linie aus dem SPIEGEL verbannte.

Aber das waren spezifische ökonomische und politische Differenzen, die ich mit dem SPIEGEL hatte. Dennoch las ich das Heft gerne.
Zunehmend schlich sich aber eine Seichtheit ein, die ich zuletzt in der Endphase der Böhme-Jahre beobachtet hatte und die Herr Aust anschließend  glücklicherweise wieder abzuschaffen schien.
Es liegt mir fern zu beurteilen, ob Mathias Müller von Blumencron und Georg Mascolo aus eigenem Antrieb oder durch wie immer gearteten Druck „meinen“ SPIEGEL boulevardesker gestalteten.
Natürlich hoffte ich im Frühjahr 2013 trotz des PR-Desasters um die Neubesetzung der SPIEGEL-Chefredaktion, daß man sich auf alte Stärken besinnen würde. Also auf die hochqualitativen Hintergrundinformationen und investigativ recherchierten Geschichten, die man eben NICHT durch zwei Klicks im Internet findet und für die man auch gerne bereit ist zu bezahlen.
Aber dann kam erst Büchner und viel schlimmer: Der BILD-Vizechef Blome.
Der SPIEGEL holt sich die BILD in die Chefetage.
Das war ein offenbar in Schilda geschriebenes Stück, das ein wenig an den ehemaligen FDP-Generalsekretär Niebel erinnerte, der immer vehement die Abschaffung des Entwicklungshilfeministeriums gefordert hatte, um dann eben jenes Ministerium selbst zu besetzen und mit zusätzlichen Staatssekretären aufzublähen.

Blome goes SPIEGEL. Unfassbar.
Franziska Augstein sprach mir damals aus der Seele, aber offenbar hatte sie nicht genügend Einfluß.
Nach einer kurzen Anstandszeit, in der Herr Blome sogar annehmbare Kommentare schrieb, trat aber doch die befürchtete BILD-Werdung des SPIEGELs ein.

Der aktuelle SPIEGEL-Titel „STOPPT PUTI JETZT!“ ist eigentlich nur noch mit den Giovanni di Lorenzos („ich darf zweimal wählen!“) Kniefall vor dem fränkischen Lügenbaron zu vergleichen.
Allerdings ist das Titelbild mit der Instrumentierung der vielen Toten für eine BILD-artige Kampagne moralisch noch deutlich unterhalb der Guttenberg-Story der ZEIT anzusiedeln.

Da Sie sich selbst nach wenigen Stunden ob des sofort einsetzenden Shitstorms an die Leser wendeten, muß ich sicher nicht im Einzelnen auf die vielen Unterstellungen der Titelgeschichte aufmerksam machen.
Sie haben offenbar deutlich erfahren wie entsetzt die Leser sind.
Manche Scheißestürme sind hochverdient
Wie tief ist der SPIEGEL gesunken, daß er die Kommentarfunktion abschaltet und von „organisiert auftretenden, anonymen Usern“ orakelt, als ob inhaltliche Kritik Majestätsbeleidigung wäre.
Es haben sich so viele Blogger empört über die „kriegstreiberische  und kriegshetzerische Sprache“ des SPIEGELS geäußert, daß es müßig ist als Nummer Zehntausend auf die mangelnde Seriosität und den Kampagnencharakter der Titelgeschichte einzugehen.

Sogar Jakob Augstein schreibt auf SPON über die Kontraproduktivität der Sanktionen. Moritz Gathmann beschreibt auf SPON wie sehr die von SPIEGEL vertretene Kampagne Putin hilft; er ist beliebter denn je in Russland.
 Und schließlich ist da noch SPON-Journalist Uwe Klußmann, der schon am 20.März 2014 berichtete, wie Russland und China nun zusammengeschweißt werden, so daß Putin am Ende ökonomisch mächtiger denn je dastehen könnte.

Welch ein Desaster der SPIEGEL-Journaille, das auf der Heft-Seite 72 mit (wenig überraschend) „Nikolaus Blome“ unterschrieben ist.

Es ist einfach grotesk zu sehen, daß es ausgerechnet die beiden ehemaligen SPIEGEL-Journalisten Hans Leyendecker und Georg Mascolo sind, die mit dem vorbildlichen NDR-SZ-WDR-Recherchepool zeigen wie guter investigativer Journalismus geht, während der SPIEGEL von heute in der Liga Diekmann mitspielen will.

Es schmerzt das zu sagen; aber nach 30 Jahren denke ich nun sehr konkret darüber nach mein SPIEGEL-Abo zu kündigen.

Mit freundlichen Grüßen…


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