Freitag, 18. September 2015

Vorurteile im Wandel.


Im Sommer 1987 reiste ich zusammen mit meinem Vater die Donau entlang – Bayern, Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien und dann über das Schwarze Meer nach Istanbul.
Freunde im meinem Alter konnten nicht verstehen, wieso ich freiwillig in den Ostblock gehe. Die Warschauer Pakt-Staaten hatte man damals überhaupt nicht auf dem Zettel. Das war die bizarre Welt hinter dem Eisernen Vorhang, die auch immer so bleiben würde. Eine Welt, die noch nicht einmal richtig negativ konnotiert war, weil niemand einen Gedanken daran verschwendete.
Noch absurder wäre es für jemanden meiner Generation in die DDR zu fahren. Das war Terra Incognita. Kannte man nur als nerviges Buchstabenkürzel aus dem Gemeinschaftskundeunterricht in der Schule.
Niemand hätte sich 1987 vorstellen können, was 1989 passieren würde.
Umso glücklicher bin ich natürlich alles noch vor der großen Zäsur gesehen zu haben.
Meine Eindrücke waren einerseits die beeindruckende Landschaft und das gute  Essen. Insbesondere mochte ich das Obst, das nicht wie bei uns zuhause hochgezüchtet war. Birnen, Pflaumen, Tomaten und Äpfel waren, klein, fest und hartschalig. Nicht so weich und saftig, wie sie hier sein mußten, um verkauft zu werden. Da hatte man zu kauen, aber umso intensiveren Geschmack.
Andererseits ist mir der allgegenwärtige Geheimdienst immer noch präsent. Vielleicht wurden wir als Amerikaner besonders streng beäugt, aber in Bulgarien und noch schlimmer in Rumänien konnte man de facto gar nicht in Kontakt mit den normalen Menschen kommen. Da gab es ganz offensichtlich Aufpasser und die Kellner oder Verkäufer reagierten auch dementsprechend übervorsichtig auf uns.
In Belgrad spürte ich gar nichts davon. Zwar war das auch irgendwie alles im Ost-Schick, weil beispielsweise die Taxis Trabbis waren und man die enge Kooperation mit der DDR erkannte, aber ganz klar war auch der Status als blockfreies Land. Tito hatte sich ja nie von irgendjemand im Kreml etwas sagen lassen und war so zu einer großen, geachteten Vaterfigur geworden.
Vielleicht habe ich damals nicht genau hingesehen, aber mir sind auch die verschiedenen Ethnien überhaupt nicht aufgefallen. Belgrad war einfach toll. Als Tourist auf Stippvisite habe ich jedenfalls keinerlei Einschränkungen der Bürgerrechte bemerkt. An zwei Abenden waren wir ziellos unterwegs und landeten jedes Mal in so einem Lokal, das voller feiernder Menschen war, die es sich gut gehen ließen, auf der Straße zu live-Musik sangen, soffen und lachten. Ein fröhliches, sympathisches und herzliches Völkchen. Es wäre schwer gewesen Beograd nicht zu mögen.
Was dann ab 1991 geschah, daß die Jugoslawische Volksarmee Kriege gegen Slowenen, Kroatien, Bosnier und Kosovo-Albaner führen würde, daß 1999 ganz Serbien von der NATO zu Klump bombardiert wurde, daß Belgrad brannte, geht bis heute nicht in meinen Kopf.

Budapest liebte ich von Anfang an. Eine großartige Stadt und sagenhafter Architektur. Ungarn war zwar ein Ostblockstaat, aber man merkte sofort was mit dem Begriff „Gulaschkommunismus“ gemeint war. Ja, man konnte wie auch in Rumänien gleich bemerken, daß es ein repressives Regime gab, aber die Ungarn schienen sich nicht sehr davor zu fürchten, sondern machten eher Witze drüber.
Sie nahmen die Staatsmacht nicht richtig ernst und/oder schimpften öffentlich über die Zustände. Die Budapester kamen mir vor wie die Anarchisten des Warschauer Paktes.
Erstaunlich viele Ungarn sprachen deutsch und kamen besonders offenherzig auf einen zu, wenn sie merkten, daß man aus dem (westlichen) Ausland stammte.
Abgesehen davon, daß Ungarisch im Gegensatz zu allen romanischen Sprachen, denen ich 1987 begegnete für mich völlig unverständlich ist (oft stand ich vor irgendwelchen Hinweisschildern und konnte wirklich überhaupt nicht erahnen worum es ging), wäre Budapest die Stadt gewesen, in der ich gerne gelebt hätte.
Ungarn wurde daher meine Lieblingsnation und daß die Ungarn, die sich ja schon beim Volksaufstand von 1956 als äußerst aufmüpfig und freiheitsliebend gezeigt hatte, auch im Jahr 1989 als erstes die Grenzen öffneten, um die Ossis durchzulassen, passte nur zu gut in mein positives Vorurteil. Die hatten keinen Bock auf Reglementierungen und fürchteten sich nicht vor sowjetischen Panzern.

[….] Der Vorhang für die Tragödie fiel am 23. Oktober 1956 während einer friedlichen Demonstration in Budapest. Das ungarische Volk protestierte damals für freie Wahlen und Pressefreiheit, außerdem verlangte es den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen. Das war mutig, denn die Sicherheitskräfte eröffneten sofort das Feuer gegen die Teilnehmer. Es kam zu Straßenkämpfen und letztlich zu einem Volksaufstand, der von Sowjettruppen blutig niedergeschlagen wurde. Zehntausende Ungarn flüchteten aus ihrer Heimat. Ihren Höhepunkt erreichte die Massenflucht am 4. November 1956, als sich viele Soldaten den Aufständischen anschlossen und sich Ungarns Grenze öffnete. Gut 200 000 Menschen machten sich auf den Weg in Richtung Westen.
[….]. Ähnlich wie heute kamen die Menschen über Österreich nach Bayern, gut 80 000 Menschen mussten auf die Schnelle untergebracht werden.
Positive Einstellung zu den Flüchtlingen
[….] Die ersten Ungarn kamen am 16. November 1956 im Berchtesgadener Land an. "Als der Sonderzug mit 10 Minuten Verspätung langsam in den Bahnhof einlief, erhoben sich zahllose Hände zu herzlichem Willkommen, Kameras surrten, Fotoverschlüsse klickten. Gesichter erschienen an den Fenstern, die sorgenvollen Mienen der Flüchtlinge aus dem Grauen der letzten Tage erhellten sich . . ." [….] Auch 1956 mussten auf die Schnelle Auffanglager und Unterkünfte bereitgestellt werden. Als Sammelstellen für Ungarn-Hilfen eingerichtet wurden, gingen in kurzer Zeit fünf Millionen Mark ein, in jener Zeit eine gewaltige Summe. [….] (Hans Kratzer, 18.09.15)

Denke ich 2015 an Ungarn, kommt mir die Begeisterung, die ich vor knapp 30 Jahren für das Volk empfand, wie eine Nachwehe eines bizarren Traumes vor.
Ungarn, nur knapp größer als Bayern, etwas unter 10 Millionen Einwohner (Bayern 13 Mio) ist seit 1999 NATO-Staat und wurde 2004 EU-Mitglied, ist jetzt also „einer von uns“, konnte von der ganzen Welt profitieren, sich touristisch präsentieren und erhält jährlich etwa vier Milliarden Euro Finanzhilfen aus Brüssel. Sind das nicht beste Voraussetzungen, verglichen mit dem viel ärmeren und rückständigeren Polen, Bulgarien, Tschechien und Rumänien?


Wie konnte es passieren, daß zwei Drittel der Bevölkerung 2010 nach einer eher läppischen Affäre der bis dahin regierenden Sozialdemokraten die rechts-nationale Fidesz des Viktor Orbans wählten und zudem auch noch die Nazi-Partei Jobbik ins Parlament schickten, die neben dem immer noch mit absoluter Mehrheit herrschenden Orban bei den letzten nationalen Wahlen (2010) 20,5% erreichte?
Wie kann es sein, daß in ganz Ungarn offen Jagdszenen auf Juden und Roma stattfinden?


Ungarn ist heute der Paria Europas. Mit Regierungschef Orban treffen sich nur noch üble rechte Populisten – Horst Seehofer zum Beispiel.

Viktor Orbán in Bayern: Die CSU und ihre Spezln von rechts
    Schon mehrfach fiel die CSU damit auf, dass sie umstrittene internationale Politiker einlud.  Schon Silvio Berlusconi stand auf der Gästeliste, auch der österreichische Rechtspopulist Jörg Haider war einst als Gast im Gespräch. Kritik an ihrem Vorgehen perlt an der CSU ab.

Ungarns Regierung verhält sich derart repressiv, daß anderen EU-Regierungschef der diplomatische Kragen platzt.

Mit ungewöhnlich scharfen Worten hat der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann sein EU-Nachbarland Ungarn kritisiert. Er verglich die Flüchtlingspolitik von Ministerpräsident Viktor Orban mit der NS-Zeit.
"Flüchtlinge in Züge zu stecken in dem Glauben, sie würden ganz woandershin fahren, weckt Erinnerungen an die dunkelste Zeit unseres Kontinents", sagte Faymann dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Es sei unerträglich, "Menschenrechte nach Religionen zu unterteilen". Der ungarische Regierungschef Orban betreibe "bewusst eine Politik der Abschreckung".
(Tagesschau 12.09.2015)

In Serbien sieht man die Selbstabgrenzung Ungarns mit Unbehagen. Man fürchtet Massenabschiebungen, der serbische Innenminister Aleksander Nikoli ist besorgt: "Ich bin mir nicht sicher, ob wir für die Rückführung von Flüchtlingen aus Ungarn bereit sind."
Auch die umliegenden Länder, auf die die Flüchtlinge nun ausweichen könnten, rüsten sich. In Kroatien, Slowenien und Rumänien bereitet man die Errichtung von provisorischen Aufnahmelagern vor.
Die serbischen Medien machen keinen Hehl aus ihrer Meinung über Orban. "Ein schlechter Nachbar" schreiben sie. Und "Faschist aus dem Herzen Europas" steht da über eine Bild von Viktor Orban. "Schande, Orban". "Der selbst ernannte Hüter Europas bedroht mit seinen miesen Methoden alles, was er angeblich verteidigt.", schreibt die serbische Zeitung "Blic".
Der serbische Premier Aleksandar Vucic will keine Zäune aufstellen, er erinnert sich nur 20 Jahre zurück, an die Zeit, wo viele Serben selbst auf der Flucht vor dem Jugoslawien-Krieg waren: "Vor uns stehen zahlreiche Probleme. Aber wir werden keine Mauern errichten, sondern Serbien wird seinen Teil der Verantwortung übernehmen."
(Heute.at 14.09.2015)

Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter hat die harte Haltung des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban scharf kritisiert: «Herr Orban ist eine Schande als Regierungschef für jedes Land, aber er ist eine Schande für Europa, denn er tritt die europäischen Werte mit Füßen.»
«Und es ist grotesk, dass er sich aufs Christentum beruft bei seinen Maßnahmen. Das ist eine Beleidigung für jeden, der gläubig ist», sagte der Grünen-Politiker im ZDF-«Morgenmagazin».
(Welt 04.09.2015)

Am Abend hatte bereits EU-Ministerratspräsident Jean Asselborn kritisert, dass Ungarn keine Muslime aufnehmen will. Im ZDF-"heute journal" sagte er: "Der sagt ja, er will nur Christen haben, aber wenn Orban ein Christ ist, dann ist Kim Il Sung auch ein Christ."
(dpa 04.09.2015)


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