Montag, 30. November 2015

Kampagne versus Journalismus

Für einen homo politicus wie mich sind alle Wahlabende große Ereignisse.
Groß, aber selten gut.
Meistens wird es noch schlimmer als ich es befürchtet hatte und dann muß man zu allem Übel auch noch die Menschen, die man an wenigsten leiden kann beim Jubilieren betrachten.
Gestern kam es zu der angenehmen Variante, daß ich ein schlechtes Ergebnis erwartete und es dann doch ganz prima ausging.
Das schwere, dicke Damoklesschwert, das seit Monaten so bedrohlich über meinem Kopf schwebte war schlagartig verpufft. Einfach weg. Sehr erleichternd.  
Ich kommentierte mit relativ wenig Häme und wollte das Thema „Bewerbung für die Olympischen Spiele 2024“ schnell lad acta legen, weil es wirklich Wichtigeres gibt.
Ja, die Enttäuschung der Unterlegenen wurde etwas sehr ausgewalzt, aber dabei ging es hauptsächlich um Sportler und die sind ohnehin nicht für ihre geistigen Kapazitäten bekannt.

Heute staune ich allerdings nicht schlecht über das Verhalten der Hamburger Presse.
Seitenlanges Lamento und Schuldzuweisungen.
Immer noch wird wie selbstverständlich die Position vertreten, daß man vernünftigerweise nur FÜR Olympische Spiele sein könne.
Das Aus für die Bewerbung wird ausschließlich als Schmach und Schande beschrieben. Offensichtlich wurde das 52%-Dagegen-Ergebnis in den Zeitungsredaktionen als 99%-Zustimmung uminterpretiert, die aber durch irgendeine Ungerechtigkeit des Satans nicht zählte.

Der Abendblatt-Chef Lars Haider ließ sogar wissen wie sehr man sich nun für Hamburg schämen müsse. Es sei eine Blamage.

Hamburg, Helmut Schmidts "schlafende Schöne", hat wieder kurz einmal im Scheinwerferlicht gestanden. Die Stadt war die Hoffnung des deutschen Sports, aber auch die Hoffnung der deutschen Politik. Niemand hätte es dort für möglich gehalten, dass die Hanseaten diese Herausforderung nicht annehmen würden. Jetzt, wo genau das geschehen ist, wird die Wahrnehmung und die Rolle Hamburgs in Deutschlands eine andere sein. Man wird wieder viel über die Selbstzufriedenheit der Hamburger lästern, aber auch über ihren fehlenden Mut. Die Entwicklung der Hanse- zur Sportstadt wird stoppen, weil es kein gemeinsames Ziel mehr gibt. […]  Sagen wir es, wie es ist: Von außen betrachtet hat sich Deutschland mit Hamburg in einer Form blamiert, wie man es kaum für möglich gehalten hätte. […]  In die olympische Geschichte wird Hamburg eingehen als der Bewerber, der sich selbst um eine große Chance gebracht hat.

Ich bin einigermaßen verblüfft wie wenig Haider in der Lage ist über den Tellerrand hinaus zu blicken.
Offensichtlich lebt der Abendblatt-Chef in einem speziellen Biotop und begreift gar nicht, daß die Mehrheit es eben nicht so sieht, sondern stolz darauf ist, daß sich die Majorität der Hamburger eben nicht vor den Karren hochkorrupter Multimilliarden-Lobbyisten spannen ließen.

Dabei hatte es der Kampagne nicht an Unterstützung gefehlt: Mit Ausnahme der Linken standen alle Bürgerschaftsfraktionen hinter der Bewerbung. Auch der Hamburger SV und andere Profisportvereine trommelten. Und sogar lokale Medien warfen ihre neutrale Beobachterposition über Bord und warben mit Sonderbeilagen, ganzen Olympia-Zeitungen und einseitiger Berichterstattung für Olympia 2024.
(Benjamin Knaak, SPON, 30.11.2015)

Was für eine völlig absurde Wahrnehmung Sport wäre nur in Form von mit 11,2 Milliarden Euro gepamperten IOC-Veranstaltungen möglich!
Es gibt doch täglich Sportveranstaltungen, jedes Wochenende sogar sportliche Großveranstaltungen. Das kann und wird auch weiterhin stattfinden.
Was für eine völlig absurde Wahrnehmung Stadtentwicklung wäre nur möglich, wenn man sich Termine und Art der Entwicklungen vom IOC bestimmen läßt.

Bis gestern Abend hielt ich das Referendum noch für eine normale demokratische Angelegenheit.
Heute bekommt es aber doch noch einen ganz anderen Spin:
Die geballte MACHT Hamburgs; Parteispitzen, Milliardäre, Funktionäre, ausnahmslos alle Multiplikatoren aus der Medienwelt, Stars, Promis, Unternehmer und Verbände hatten sich zusammengetan und waren ob dieser Kumulation sicher ihren Willen durchzusetzen.
Daß sie nun aber doch am Votum des Souveräns gescheitert sind, können sie offensichtlich nicht glauben.

In Hamburg haben sich die Politik, allen voran Bürgermeister Olaf Scholz, und ein Großteil der Medien früh auf eine nahezu rückhaltlose Unterstützung der Bewerbung festgelegt. Seit Wochen haben sie das Motto "Feuer und Flamme" durch die Stadt getragen, gerade in den Zeitungen hatte das Züge einer Kampagne. Früher hätte dies wohl Wirkung gezeigt, heute nährt so etwas eher Unbehagen.
Ein Unbehagen, das in Deutschland möglicherweise noch etwas größer ist als anderswo. Und auch dadurch gefüttert wird, dass die Erfahrungen, die man zuletzt mit Großprojekten gemacht hat, nicht wirklich ermutigend sind. Stuttgart 21, die Elbphilharmonie, der Flughafen BER in Berlin-Schönefeld - zuletzt bewiesen deutsche Planer vor allem, dass sie es nicht können.
(Peter Ahrens, SPON, 29.11.2015)

Olaf Scholz hat gestern vorbildlich reagiert, indem er sagte, das Ergebnis entspräche zwar nicht seinen Wünschen, sei aber eindeutig und zu akzeptieren.
Dazu nannte er einige objektive Gründe, die zu dem Ergebnis geführt haben könnten.
DAS hätte der Tenor sein müssen.
Stattdessen erleben wir heute aber in der Hamburger Presse wütende Beschimpfungen. Das demokratische Votum wird oftmals gar nicht akzeptiert. Die Leute hätten ohne Verstand und „aus dem Bauch heraus“ entschieden.
Es wäre dumm, provinziell, beschämend, etc.

"Ein Hamburger Desaster" nennt Diskus-Olympiasieger Robert Harting den Ausgang des Votums und fragt: "Welche Vision von sportlicher Zukunft verfolgen die Menschen in dem Land, für das ich kämpfe überhaupt noch?"
Hockey-Olympiasieger Moritz Fürste kann seine Enttäuschung nicht verbergen. "Sport in Deutschland ist tot", schreibt er und zeigt sich enttäuscht von dem kurzsichtigen Denken seiner Heimatstadt.
Die Olympia-Gegner bekommen nun Wind von allen Seiten. Die verpasste Chance auf Olympia bringt die Stimmung vielerorts zum Kochen. In den sozialen Netzwerken lassen die Nutzer ihrem Frust freien Lauf. Harte Worte bleiben aber auch von den deutschen Sport-Prominenten nicht aus.
Der Präsident des Deutschen Volleyball-Verbandes Thomas Krone vergleicht den Ausgang des Referendums mit einem „Dolchstoß für die Entwicklung des Hochleistungs- und Breitensports unterhalb des Fußballs in Deutschland.“

Geht es noch?
Das Desaster haben die Hamburger verhindert.
Angerichtet haben das Desaster eben jene Sportfunktionäre, die jetzt am lautesten pöbeln.

Es sind die im Akkord produzierten Sportfunktionärsskandale, die abschrecken.
DOSB, Fifa, DFB, IAAF stehen symbolisch für Intransparenz und Korruption bei allen Sportverbänden.
Davon haben die Menschen nun – verständlicherweise – die Nase voll.
Das ist übrigens mitnichten ein Hamburger Phänomen, wie der irrlichternde Abendblatt-Chef Haider orakelt.

Solche Megaveranstaltungen wie zum Beispiel die Winterspiele 2022 kann man nur per order di mufti durchführen. Das Volk will das eben nicht mehr.

·        St. Moritz/Schweiz 52,66 % Nein-Stimmen
·        München 52,1 % Nein-Stimmen
·        Stockholm/SWE zu wenig öffentliche Unterstützung
·        Krakau/Polen 69,7 % Nein-Stimmen
·        Oslo/Norwegen zu wenig öffentliche Unterstützung

Die Herren Funktionäre Vesper, Hörmann und Rauball sollten also lieber mal in die Spiegel gucken, statt öffentlich rumzunörgeln.

Wenn eine Allparteien- und Allmedienkoalition statt einer Diskussion und Argumentation nur noch auf Kampagnen setzt, in der andere Meinungen völlig totgeschwiegen werden, macht das misstrauisch.
Damit haben sich Bürgerschaft, Zeitungen und Verbände einen Bärendienst erwiesen.
A posteriori machen sie es noch viel schlimmer, indem jetzt munter nachgetreten wird, weil man ein Wahlergebnis einfach nicht akzeptieren will.

Die Vespers und Hörmanns sollten ihre kapitale Selbsttäuschung und völlige Entkopplung von der Realität mal lieber zum Anlass nehmen zurück zu treten und nicht die Wähler beleidigen.

 „Das ist eine Schmach für den Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland Alfons Hörmann. Noch vergangene Woche hat er auf den entscheidenden Elan des deutschen Sports auf allen Ebenen beharrt.“
(„Le Figaro.fr“)

Stattdessen kleben die Herren Funktionäre aller Ebenen förmlich auf ihren Sitzen und nehmen noch nicht mal wahr, daß niemand ihnen noch vertraut.

Wahrlich beschämend ist etwas anderes in Hamburg:
Während man in den überregionalen Zeitungen aus München, Berlin und Frankfurt abgewogene Berichterstattung über die Olympiabewerbung findet, in der auch gute Argumente der Gegner aufgelistet sind, gibt es an der Elbe leider keine gute und seriöse Presse.
Die taz erscheint zwar mit einem Hamburg-Regionalteil, aber die Zeitung findet man ob der homöopathischen Auflage kaum.
Daneben gibt es die stramm rechten Springer-Postillen „WELT“ und „BILD“, das stramm konservative und zunehmend personell ausgeblutete „Abendblatt“ aus der FUNKE-Mediengruppe und schließlich noch das Boulevardblättchen „Hamburger Morgenpost“ (MoPo) von der Mediengruppe M. DuMont Schauberg.

Die Mopo gilt als etwas liberaler, hat sich in der causa Olympiabewerbung allerdings von der schlechtesten Seite gezeigt.

Soll das objektive Berichterstattung sein?
 
Daß jemand auch zufrieden mit dem 52%-Ergebnis sein kann, wird von der Mopo noch nicht einmal als Möglichkeit in Erwägung gezogen.
Auch nach der Abstimmung werden quasi nur Olympia-Befürworter zitiert.

Ich habe keinerlei Anlass Mopo, Abla oder gar die Welt zu verteidigen.
Aber generell ist es ein riesiges Problem, wenn sich die ohnehin auf dem absteigenden Ast befindliche Printpresse durch Schlampigkeit und Lobbyistenhörigkeit ohne Not noch unglaubwürdiger macht.

Andere Zeitungen beweisen ja, daß man auch ausgewogen und hintergründig über die Probleme einer Olympiabewerbung berichten kann.
Es sind aber leider ausgerechnet alle Hamburger Blätter, die mit ihren aufgesetzten Scheuklappen versagen.
Wenn immer mehr Menschen pauschal (und falsch) behaupten, man könne „der Presse“ generell nicht trauen, tragen Bild-HH, Welt-HH, Mopo und Abla Mitschuld durch ihre Unterperformance.

Da passt es, daß einer der blödsinnigsten Kommentare zum Thema auch von einem Hamburger Erzeugnis kommt; nämlich dem STERN:

Mit dem "Nein" zu Olympia zeigen die vermeintlich vorausschauenden Gegner, dass ihr Horizont kurz hinter dem eigenen Gartenzaun aufhört. Natürlich hätte ein "Ja" nicht bedeutet, dass die Spiele anschließend auch an die Elbe gegangen wären. Garantiert ist in diesen unsicheren Zeiten nämlich wenig. Aber wer nicht lebt, wird nichts erleben.
Hamburg sei das Tor zur Welt, heißt es, aber die Bürger haben dieses Tor verriegelt und den Schlüssel weggeworfen. Die traurigste Erkenntnis daran ist nicht, dass sie den Schlüssel womöglich nicht wiederfinden werden. Sondern dass sie ihn überhaupt nicht wiederfinden wollen.
(Tim Sohr, STERN, 30.11.15)

Genau umgekehrt wird ein Schuh draus.
Die Hamburger haben entschieden sich lieber den 50.000 Flüchtlingen in der Stadt zu widmen; ihnen die Türen und Herzen zu öffnen. Nach wie vor ist die Unterstützung für die Heimatvertriebenen enorm in Hamburg.
Da ist das Geld besser eingesetzt, als bei ohnehin steinreichen Sportvermarktern.

Sohr, setzen, sechs.

Nachtrag:

Jetzt erst entdecke ich einen sehr schönen Kommentar von Guido Pauling, den ich dringend noch empfehlen möchte; bitte lesen!
Darin heißt es unter anderem:

[….] Ganz gleich ob man nun für oder gegen Olympische Spiele im Norden ist; man muss feststellen: Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hat sich nicht beeinflussen lassen von dem Dauergetrommel der lokalen und überregionalen Medien, von nahezu überall prangenden Olympia-JA-Wahlplakaten, von einer Dauerberieselung pro Olympia, die selbst vor Feuer-und-Flamme-Parolen auf dem Kassenzettel des Supermarkts nicht halt gemacht hat.
[….] Und das ist die zweite überraschende Erkenntnis: Dass die Eliten in der Stadt, der Hamburger Senat, die Politiker nahezu aller Parteien, viele herausragende Köpfe der hanseatischen Gesellschaft die Wähler so falsch eingeschätzt haben.
Von gewaltiger Enttäuschung, sogar von einem Scherbenhaufen ist die Rede, als ob die Hamburger etwas kaputt gemacht haben. Hier zeigt sich eine Kluft zwischen den Meinungsführern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und der "normalen" Bevölkerung, die nachdenklich stimmen sollte. [….]

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