Donnerstag, 4. August 2016

Hintergrundrauschen

Dutzende SPD-Parteimitglieder haben ihre Parteibücher zurückgegeben, weil sie so wütend sind.
Grund ihres Zorns ist Petra Hinz, 54, seit 2005 Bundestagsabgeordnete aus Essen, die dreist ihren Lebenslauf frisiert hatte.

Sehr unangenehme Geschichte für die Genossen, die schon genügend Ärger mit Zickzack-Sigi haben, der sich zuletzt mit der Edeka-Affäre und der sinnlosen Elektroauto-Prämie blamierte. Letzteres scheint sich zum Totalflopp auszuweiten.

Frau Hinz gab inzwischen ihre Parteiämter ab, kommt aber nicht dem Wunsch der SPD nach auch auf ihr Bundestagsmandat zu verzichten.
Sie meldet sich krank, ihr Büro ist verwaist, aber ihren Sitz und die Diäten behält sie.

In den sozialen Netzwerken wächst sich das natürlich zum Anti-SPD-Shitstorm aus.
Wieder so eine raffgierige nutzlose Politikerin, die sich nur auf Steuerzahlerkosten bereichern will, tönt es auf Twitter und Co.
Das ist Wasser auf die Mühlen der AfD.

Der Anti-Hinz-Shitstorm zeigt dabei zweierlei.

Der Urnenpöbel denkt Geld in Dienstwagen-Einheiten.
Wenn Politiker sich Vorteile von ein paar Tausend Euro verschaffen, ist das genau die Größenordnung, in der die meisten Wähler auch denken können.
Da wird der eigenen Phantasie kaum etwas abverlangt und die Aufregung über „die Raffkes“ ist enorm.
Dabei sind die Diäten der Frau Hinz nur winzige Beträge im Vergleich zu den Milliarden, die zum Beispiel Energie-intensive Industrie oder dem Atom-Oligopol zugeschoben werden.
Die Milliarden, die Milliardären und Millionären durch die niedrige Kapitalertragssteuer zugeschanzt werden, die von der Bundeswehr durch Rüstungslobby-freundliche Verträge verlorenen Milliarden, die Milliarden für „notleidende Banker“, die 200 Milliarden Euro, die durch Steuerflucht verloren gehen verloren, weil einfach keine Steuerfahnder eingestellt werden, um nach Schwarzgeld zu fahnden und vieles andere mehr, stören den modernen Facebooker offensichtlich gar nicht.

Zweitens zeigt die Aufregung um Frau Hinz eine massive Unkenntnis unserer Verfassung.
Parteien können unliebsamen Parlamentariern nicht das Mandat entziehen. Zum Glück!

"Was aber tun, wenn Hinz einfach bleibt? Die Antwort ist einfach: Dann bleibt sie. Die Fraktion müsste sie zwar verlassen. Sie würde aber als fraktionslose Abgeordnete in den hintersten Reihen des Bundestages einen Einzelplatz zugewiesen bekommen. Sie würde ihr Büro behalten und noch ein Jahr länger ihre Abgeordnetendiäten bekommen.
Viele empfinden das als ungerecht. Hinz hat mit einem falschen Lebenslauf ihre Wähler betrogen. Hat eine Kompetenz vorgegaukelt, die sie - zumindest auf dem Papier - nicht hat. Das müsste doch Grund genug sein, ihr das Mandat zu entziehen. Für jeden Arbeitnehmer wäre es ein Kündigungsgrund, wenn er gegenüber dem Arbeitgeber im Lebenslauf falsche Angaben macht.
Mag sein. Ein Abgeordnetenmandat aber ist eben kein normaler Job mit geregelten Arbeitszeiten und Vorgesetzen, die einem sagen, was zu tun und zu lassen ist. Das Mandat ist vom Grundgesetz besonders geschützt. Wer es durch Wahl erwirbt, der behält es mindestens bis zur nächsten Wahl.

Hinz schadet der Demokratie und insbesondere auch der SPD. Deswegen sollte sie unbedingt gehen.
Ich will aber nicht, daß eine Partei das Recht bekommt einzelne nicht mehr genehme Abgeordnete aus dem Parlament zu entfernen.
Das wäre schlimmer, als in diesem einen Fall so eine Person weiter erdulden zu müssen.

Unter den Zehntausenden Abgeordneten, die in bundesrepublikanischen Parlamenten saßen, gab es immer mal wieder Totalausfälle.
Solche Vögel wie Erika Steinbach, Norbert Geis oder Heinrich Lummer sollten lieber nicht im Bundestag zum allgemeinen Mitschämen aktiv (gewesen) sein.
Aber unsere Demokratie kann das besser aushalten, als eine Erdogansche Abstrafung von Parlamentariern, die aus der Reihe tanzen.

Neu ist das im Übrigen nicht.
Kurt Neumann (1996 aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen) und Carl-Eduard von Bismarck (ab 2003 mehrere Jahre für die CDU als Phantomabgeordneter im Bundestag, ohne jemals zu einer Parlamentssitzung zu erscheinen oder im Wahlkreis erreichbar zu sein) waren noch viel peinlicher.
Hinz hat wenigstens fleißig gearbeitet.

Jürgen Möllemann behielt sein Bundestagsmandat bis zu seinem Suizid im Juni 2003, nachdem er im Februar aus der FDP und der Fraktion ausgetreten (worden) war.
Peter Gauweiler galt Jahre als faulster Abgeordneter, hatte die geringsten Anwesenheitszeiten und gleichzeitig mit über einer Million Euro jährlich die höchsten Nebeneinkünfte bis er im März 2015 doch noch sein Bundestagsmandat abgab.
Martin Hohmann war selbst der CDU zu rechtsradikal und wurde 2003 aus der Partei ausgeschlossen, blieb aber dennoch bis zur Bundestagswahl 2005 einfach im Bundestag sitzen.

Das sind ärgerliche Fälle.

Aber ich halte als Demokrat lieber ein halbes Dutzend von solchen faulen Äpfeln aus, als daß ich irgendwelchen Parteigremien das Recht gebe nach ihrem Gutdünken Volksvertreter aus dem Parlament zu schmeißen und den §38 GG opfere.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Art 38
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

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