Das Thema Sex zu meinen Jugendzeiten oder gar der Jugendzeit
meiner Eltern unterscheidet sich natürlich erheblich von dem heute.
In meiner Kindheit erfuhr man was es mit Geschlechtsverkehr,
Genitalien und Kinderkriegen auf sich hat, tatsächlich durch ein
Aufklärungsgespräch. Irgendein Erwachsener oder Erwachsenerer nahm einen
beiseite und erklärte die Funktionsweise der entsprechenden Organe. In meiner
Erinnerung galt das als so eine Art bürgerliches Ritual. Notwendig für
Stadtkinder. Die Bauernjugend wußte ohnehin alles, weil sie die
entsprechenden Vorgänge bei all ihren Tieren beobachtet hatten.
Meine Jugendzeit war ziemlich liberal. Im Sommer badeten
alle in einem nahe gelegenen Teich. Natürlich nackt. Man wollte ja nicht anschließend
mit dieser nassen Hose rumlaufen und blöde weiße Stellen beim Sonnen bekommen.
Erst beim Schwimmunterricht in der Schule musste ich
Badehosen tragen, aber das waren natürlich diese möglichst Kleinen, die keinen
Wasserwiderstand bieten sollten.
Bis heute ist es mir vollkommen unverständlich, daß diese „Speedos“
heute so verpönt sind und Männer am Strand weite, überknielange Bein-Burkas mit
mehreren Quadratmetern Stoff tragen. Dabei will ich nicht den modischen Aspekt
bewerten, aber im Wasser ist so viel Textil eine echte Bremse und wer will denn
anschließend mit den vollgesogenen nassen Sachen rumlaufen?
Offenbar geht es darum auch nur die leisesten Umrisse
männlicher Genitalien unkenntlich zu machen, als ob die etwas völlig
Unnatürliches wären, das versteckt und tabuisiert gehört.
Verwunderlich ist das allerdings nicht in einer Welt mit Milliarden
Facebook-Nutzern, die sich alle dem äußerst strengen US-amerikanischen Nippel-Verbot
fügen. Mord, rassistische Hetze, drastische Gewaltdarstellungen fallen unter „Meinungsfreiheit“,
aber bei einer weiblichen Brustwarze schrillen Zuckerbergs Alarmglocken.
Vermutlich gehört das zu den Dingen, über die sich
zukünftige Generationen totlachen werden. Was war das nur für eine
grotesk-heuchlerische Gesellschaft Anfang des 3. Jahrtausends.
Der Effekt dieser starken, strafbewährten Tabuisierung und
abstruser Moden wie Baggy-Swim-Pants und dem Zwang zur totalen Genitalrasur
auch bei Männern ist natürlich eine umso stärkere Aufmerksamkeit.
Ich habe schon oft Altersgenossen oder Ältere gefragt, die
in ihrer Jugend ähnlich wie ich viele andere nackte Menschen am Strand, beim
Schwimmen oder beim Sport gesehen haben, ob sie sich konkret an die Achsel-
oder Genitalbehaarung Anderer erinnern. Hat man noch Busen-Formen und Penis-Größen
vor Augen?
Meine Antwort ist ein klares NEIN. Denn ohne die entsprechende Modezwänge und Tabus war das so natürlich, daß es keiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte.
Meine Antwort ist ein klares NEIN. Denn ohne die entsprechende Modezwänge und Tabus war das so natürlich, daß es keiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte.
Man guckte im Freibad nicht genau hin, ob der Typ vor einem
auf dem Sprungbrett eine besonders große Wölbung in der knappen Badehose hatte,
weil die Idee, daß so etwas Aufmerksamkeit verdiente noch nicht existierte.
Nach meinem Eindruck wird jetzt aber im Zuge der
allgegenwärtigen Diskussionen um Brustimplantate, Bauchstraffungen und
Genitalwaxing ein so öffentliches Interesse geschaffen, daß man überhaupt
gezielt weggucken muss, wenn in Werbung oder Social Media nackte Körperregionen
zu sehen sind.
Die längste Zeit meines Lebens kannte ich den Begriff „Six
Pack“ gar nicht. Zu meiner Jugendzeit gab es keine „Fitnessstudios“; ich wäre
daher auch nie auf die Idee gekommen anderen Jugendlichen in der Sportumkleide
kritisch auf den Bauch zu gucken, um abzuschätzen wie wohl der Körperfettanteil
ist.
Heute sind perfekt gewachste Model-Männer mit muskulösen
Waschbrettbäuchen in Werbung und TV so omnipräsent, daß sogar mir auffällt,
wenn einer aus dem Raster fällt.
Social Media schafft einen Aufmerksamkeitswahn, der
vermutlich auch erklärt, wieso Jugendliche heute viel später als vor 50 Jahren
das erste mal Sex haben, obwohl sie wegen ihrer Klugtelefone schon im präpubertären
Alter ausführlicher über alle nur erdenklichen Sexualpraktiken im Bilde sind, als alle
Generationen vor ihnen.
Vermutlich schüchtert das ein. Bodyshaming, Bulimie,
Mobbing, Angststörungen aller Art bis hin zum Suizid haben dadurch Konjunktur.
Die Zugehfrau meiner Großmutter, Frau Tiedemann, war eine
herzensgute Seele, die viel lachte. Aufgewachsen war sie vor dem Krieg als
älteste von zehn Kindern in echter Mecklenburger Armut.
Sie hatten nur einen Raum mit drei Betten, in denen sich 12
Personen drängelten. Gearbeitet wurde 16 Stunden am Tag und als älteste Tochter
war Frau Tiedemann quasi immer dabei, wenn ihre Eltern ihre Geschwister
produzierten. Muttern hatte vermutlich nicht immer Lust dazu. Nachts hörte sie
den Vater dann zischen „nun nimm die Füße auseinander!“ bevor ein kurzes
Geruckel des Bettes losging.
Unter solchen Umständen braucht es keine weitere Aufklärung.
Da wissen die Kinder automatisch was sie in ihrer eigenen Hochzeitsnacht zu tun
haben.
Aus Sicht der Jugendlichen im Westen des 21. Jahrhunderts
sind das vermutlich keine erstrebenswerten Zustände.
Aber natürlich blieb Frau Tiedemann auch viel sozialer Druck
erspart. Sie musste als Teenagerin nie Bilder von sich der Welt präsentieren,
sich um die neuesten Schmink- und Frisurentrends sorgen, bangen wie viele Likes
ihre Selfies bekommen, konnte Geld für Lippenfüllungen, Botox-Spritzen und
Kochsalzimplantate sparen. Ihre Brüder waren nie verunsichert, ob ihre Penisse
zu krumm, der Bauch zu wabbelig oder die Achseln zu haarig waren.
Ich mutmaße, daß auch der erste Sex unter solchen Umständen
mit viel weniger Erwartungshaltung und Erfolgsdruck stattfindet.
Aber ist es wirklich ein Segen überall so genau hinzusehen,
daß man verschreckt und hysterisch rund um die Uhr damit beschäftigt ist sich mit
Kosmetik, Schönheitschirurgie, Mode, Instagram-Filtern, Photoshop zu verhüllen?
Daß man jeden Quadratzentimeter der eigenen Haut mit
Piercings, Tattoos, Brandings, Tönungen optimiert, bevor man sie dann mit züchtig
verhüllten Nippeln und garantiert Bulging-freien Baggy-Shorts Millionen
Menschen zeigt?