Montag, 16. Juni 2014

Ich bin alt und konservativ – Teil III


Zum Glück bin ich jetzt in einem Alter, in dem meine weiblichen Schulfreunde langsam die biologische Fruchtbarkeitsgrenze erreichen und meine anderen Freunde sind eher älter.
Das bedeutet, daß die Kinderkriegerei in meinem Umfeld erst mal vorbei sein dürfte.
Ohnehin trennen sich ja die Sphären von Eltern und Vernünftigen ziemlich vollständig, weil 90% der Menschen, die Kinder bekommen ganz ganz seltsam werden. Monothematisch und ermüdend.
Wer hat noch nicht diesen Alptraum erlebt, wenn man Besuch von einer alten Freundin, bzw einem alten Freund bekommt und der es für eine gute Idee hielt sind kleines Balg mitzubringen.
Den Abend kann man dann getrost vergessen, weil das Gör 99,5% der Aufmerksam absorbiert und man keine Chance mehr auf eine richtiges Gespräch hat.
Nachdem ich die ersten Male schwer von diesen monothematisch auf ihr Blag fixierten Eltern genervt wurde, fragte ich natürlich meine Mutter, wie sie das damals mit mir gemacht hat.
Es gibt ja Photos von mir, die beweisen, daß ich auch zu anderen Menschen mitgeschleppt wurde.
Aber meine beiden Eltern schworen; und zwar unabhängig voneinander; daß es das Problem damals nicht gab, weil ich ein angenehmes Kind war.
Ich quengelte nicht in der Öffentlichkeit rum und verlangte nicht ununterbrochen nach Aufmerksamkeit.
Ich konnte mich schon immer wunderbar allein beschäftigen; gewissermaßen die Inkarnation der Kontemplation.
Es gibt davon viele Geschichten; auch solche, die später meine Mutter erschaudern ließen.
So besuchten wir zu unserer New Yorker Zeit sehr oft am Wochenende die besten Freunde meiner Eltern. Ein schwules Paar in Clinton, New Jersey.
Da gibt es die Geschichte, wie Tammox Nüsse isst.
In Jacks Arbeitszimmer stand eine große Schale Wal- und Paranüsse. Ich konnte gerade laufen, taperte alle fünf Minuten in sein Zimmer und holte genau eine Nuss.
So ging es den ganzen Tag, bis ich wohlgesättigt war.
Meine Eltern, die draußen saßen, nahmen natürlich an, daß Jack die Nüsse für mich öffnete. Das tat er aber nicht wie sich später herausstellte und man wunderte sich wie ich das wohl stattdessen angestellt hatte. Also spionierte mein Vater mir nach und sah mich mit jeweils einer Nuss durchs ganze Haus bis in die Küche laufen, wo der große Bernhardiner von Jacks Mann rumlag. Dem Köter stopfte ich immer eine Nuss ins Maul, ließ ihn zubeißen und dann teilten wir uns die Krümel.
Mein Vater schwitzte Blut und Wasser, daß meine Mutter das nicht rausbekam. Sie hatte offenbar ganz andere Vorstellung von der Hygiene der Nahrung ihres Erstgeborenen als Nüsse in Dreck und Hundespeichel.
Es gibt viele dieser Geschichten; offenbar wußte ich in jeder Umgebung irgendwas mit mir anzufangen, ohne Erwachsenen auf die Nerven zu gehen.
Laut meiner Eltern waren Kinder damals zwar auch immer dabei, aber da sie damals noch ganz ADHS-frei vom Storch geliefert wurden, mußte man sich in der Öffentlichkeit auch nicht für sie schämen.
Als ich in das Alter kam, daß die ersten Freunde selbst Kinder hatten, begann aber der Telefonalptraum. Es war immerhin noch die Zeit vor Internet und Simsen. Um zu kommunizieren, telephonierte man. Bei denen, die kleiner Kinder hatten, mußte man aber befürchten, daß dieselben abnahmen. Gerne in dem Alter bevor sich richtig sprechen konnten und dann minutenlang sinnfrei in den Hörer glucksten, während man Mama und Papa im Hintergrund kichern hörte.
Oder noch schlimmer: Man sprach gerade am Telephon und urplötzlich wurde man an den zweijährigen Max oder die dreijährige Lena weitergereicht, weil die ja sooooooooooooooo gerne telephonierten.
Selbst wenn man fremde Kinder dieses Alters gemocht hätte, wäre allerdings kein Gespräch möglich gewesen, weil die Gören üblicherweise am Hörer schwiegen und offenbar debil vor sich hin grinsten – wie man dem jauchzenden Entzücken ihrer Erzeuger im Hintergrund entnehmen konnte.
Als ich einmal ein ernstes Gespräch mit einer Freundin führen wollte, war ich so genervt, weil sie gleichzeitig immer mir ihren vier Kindern sprach, daß ich irgendwann einfach auflegte. Sie wurde ganz furchtbar böse und fragte mich später, wie ich dazu käme einfach aufzuknallen.
Aber ich wußte ja gar nicht, mit wem sie eigentlich redete, weil im Minutentakt die Gören in ihr Zimmer platzen und irgendwas rausposaunten, worauf die Mutter auch sofort antwortete.
Alles rennet, redet, flucht.
Erst da, ich war sicher schon über 30, fiel mir wieder ein, wie es mir als Kind ging, wenn meine Mutter telephonierte.
Immer wieder rannte ich zur Wohnzimmertür, lugte hinein, um zu sehen, ob sie schon aufgehängt hatte, wenn ich sie um irgendeine Erlaubnis fragen wollte.
Man unterbrach nämlich Erwachsene nicht am Telephon und wartete, bis sie fertig waren, bevor man sie störte.
Ich kann mich nicht an entsprechende Maßregelungen erinnern und fragte später meine Mutter wieso ich mich eigentlich „so brav“ verhalten hätte, oder ob ich mich einfach nicht an entsprechende Sanktionen bei Nichtbefolgung der Regeln erinnerte.
Sie sagte, das sei alles eine Frage des „Vorlebens“.
Wenn sich die Erwachsenen entsprechend verhielten, machten sie Kinder das automatisch auch so.

Damit sind wir bei der Bitte-und-Danke-Frage. Wieso können so viele Kinder das heute nicht mehr? Bringen ihre Eltern ihnen das nicht mehr bei?
Nein, sie tun es eben selbst nicht.
Das sind die Wichtig-Mütter, jene unerträgliche Latte-Macchiato-Spezies, die sich an der Käsetheke vordrängt und bei Missfallensäußerungen schnippisch einwirft „Sie sehen doch, daß ich ein Kleinkind dabei habe!“
Gerne verlangen die dann auch noch am Käsestand (sic!) ein „Wienerwürstchen auf die Hand“ – das sei ja wohl üblich, wenn man ein Kind hätte.
So erzogene Gören tun mir Leid.
Wenn die seit dem Schlüpfen nur Hoppla-jetzt-komm-ich vorgelebt bekommen und es nie anders erlebt haben, die niemals Rücksichtnahme und Höflichkeitsformeln kennengelernt haben, dann lernen sie es auch später kaum noch.
Wenn solche Blagen in der Grundschule durch schlechtes Benehmen und Konzentrationsunfähigkeit auffallen, sind natürlich die Lehrer Schuld.
Das Problem an Kinderhirnen ist, daß sie einerseits moralisch völlig verlottert sind und erst noch langsam lernen müssen was Empathie bedeutet, aber andererseits diese beneidenswerte Lernfähigkeit haben.
Für Kleinkinder ist es nicht das geringste Problem trilingual aufzuwachsen. Im Nachbarhaus wohnt ein Vierjähriger, dessen japanische Mutter und der amerikanische Vater es ohne große Anstrengung bewirkt haben, daß es völlig fließend zwischen deutsch, japanisch und englisch switchen kann.
Das ist der Normalfall bei binationalen Elternhäusern.

Ich bin der Meinung, man sollte diese besondere Lernfähigkeit der Kinder nutzen und ihnen soziales Verhalten vermitteln.
Das ist erheblich sinnvoller, als all die Latte-Macchiato-Mütter, die jeden Nachmittag ihrer Dreijährigen durchgeplant haben, damit die Kleine schon vor der Einschulung Mandarin, das Violinspiel und Makramee beherrscht.
Natürlich, Mandarin lernt man leichter im Krabbelalter.
Aber auch weniger offensichtlich beeindruckende „Skills“ sind wertvoll.
Wir denken da an die erschreckenden Ergebnisse der Nürnberger Bildungsforscherin Stephanie Müller.

Der Verfall der kindlichen Fertigkeiten ist allerdings schon erheblich weiter fortgeschritten, als man angesichts der Pläne ZUKÜNFTIG auf Handschrift zu verzichten, vermuten mag.
Das tumbe Konsumieren im frühen Kindesalter – also indem durch Fernsehen und Co ständig das Gehör und die Augen gereizt werden, ohne daß das Kind REagiert oder etwa körperlich INTERagiert, führt zur Verkümmerung vieler feinmotorischer Fähigkeiten. Simpelste Anforderungen wie eine Schleife zu binden, auf einem Bein zu stehen oder gar mit der Hand schreiben zu können, werden vermutlich aussterben.

Kleine Kinder in Deutschland lernen einerseits nicht mehr feinmotorische Fertigkeiten wie Schreibschrift.
Andererseits wird auch die Rechtschreibung immer schlechter, weil die richtige Schreibweise durch verblödete Kultusminister auf „immer später“ verschoben wird.
Neuerdings meinen viele Bundesländer, man solle die Kinder erst mal „irgendwie“ schreiben lassen, damit sich ihre Kreativität entwickeln kann und sie nicht durch orthographische Sanktionen behindert werden.

„Lesen durch Schreiben“ heißt der bahnbrechende Schwachsinn, den die ohnehin schwachsinnige KMK ausgebrütet hat. Grundschulexperte Günter Jansen gruselte sich schon letztes Jahr bei SPON.

SPIEGEL: Sehr viele Grundschüler in Deutschland lernen inzwischen mit Methoden und Lehrgängen schreiben, die Elemente des Konzepts "Lesen durch Schreiben" des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen übernommen haben. Das sind zum Beispiel die "Rechtschreibwerkstatt", "Tinto", die "ABC-Lernlandschaft" oder "Konfetti". Was halten Sie von diesen Verfahren?

Jansen: Nichts, die Grundannahme dieser Methoden ist falsch. Reichen ging davon aus, dass Kinder sich die Schriftsprache selbst erarbeiten könnten. Dafür sollen sie zunächst so schreiben, wie sie sprechen. Ein Unding! Zahllose Fehlschreibungen - die von Lehrern über ein oder sogar drei Jahre hinweg nicht oder kaum korrigiert werden - sind vorprogrammiert. Die Kinder dann in der zweiten oder dritten Klasse wieder umzupolen und ihnen statt der antrainierten chaotischen Rechtschreibung die richtigen Schreibweisen beizubringen, ist meist unglaublich schwer. Hirnforscher wissen: Richtig Schreiben lernen wir ähnlich wie Geigespielen oder Hochsprung. Man weiß: Wenn sich dabei gewisse falsche Routinen einmal entwickelt haben, sind sie kaum wieder abzutrainieren.

SPIEGEL: Kernstück aller der von Reichen inspirierten Verfahren ist die sogenannte Anlauttabelle. Darin ist jedem Buchstaben ein Tier oder Gegenstand zugeordnet, der mit diesem Buchstaben beginnt. Mit Hilfe dieser Bildchen sollen sich die Kinder die Buchstaben für die Wörter, die sie schreiben wollen, selbst zusammensuchen. Wenn sie zum Beispiel "Mama" schreiben wollen, finden sie das "M" neben der Maus, das "A" neben dem Affen. Geht das?

Jansen: Die Arbeit mit der Anlauttabelle kann nicht funktionieren. Im Deutschen soll es etwa 4000 unterschiedliche Laute geben, die alle mit den Buchstaben des Alphabets in Schrift umgesetzt werden müssen. Das sollte man selber einmal versuchen. Schon bei "Tomate" hört es auf! Das "e" am Ende, der sogenannte Schwa-Laut - übrigens einer der häufigsten Laute der deutschen Sprache - kommt zum Beispiel in Reichens Anlauttabelle gar nicht vor. Mit der Anlauttabelle kann nur der effektiv arbeiten, der bereits richtig schreiben kann.

SPIEGEL: Ein weiteres gemeinsames Merkmal vieler der von Jürgen Reichen inspirierten Verfahren ist, dass sich jedes Kind aussuchen darf, in welcher Reihenfolge es die Buchstaben lernen will.

Jansen: Das ist völliger Unsinn. Es gibt doch strategisch wichtige und weniger wichtige Buchstaben. Allen diesen Methoden gemeinsam ist die maßlose Überschätzung der Kinder! Gerade in den ersten Schuljahren sind Kinder noch auf ein hohes Maß an Unterrichtsführung durch den Lehrer angewiesen.  [….]

Ich verstehe zwar den zugrunde liegenden Gedanken, aber da ich alt und konservativ bin, halte ich das ganz wie Jansen für ziemlichen Unsinn.
Man sollte, im Gegenteil, gleich von Anfang lehren RICHTIG zu schreiben. Denn umso leichter lernt man es.
Aufgeschoben und ist sonst aufgehoben. Das Konzept ist übrigens auch in Bayern erfolglos umgesetzt worden.

Die Gymnasiallehrer beklagen nachlassende Leistungen in der Rechtschreibung. „Das ist deutlich schlechter geworden, auch in Bayern“, sagt der Präsident des Bayerischen Philologenverbands (bpv), Max Schmidt.
Einige häufige Fehler: lib statt lieb, unt statt und, fiele statt viele. Und manche Buben lieben „Fusball“, während manche Mädchen ihre „Pupe“ bevorzugen.
An diesem Donnerstag beginnt für 1,7 Millionen bayerische Schüler das neue Schuljahr, darunter knapp 417.000 Grundschüler. Eine Hauptaufgabe des neuen Schuljahrs im Ministerium: die geplante Neufassung des Grundschullehrplans, in dem auch die Lehrmethode für die Rechtschreibung festgelegt wird.
Die Rechtschreibprobleme haben eine Ursache mutmaßlich in der seit einigen Jahren praktizierten Lehrmethode „Lesen durch Schreiben“: Erst- und Zweitklässler sollen keine Angst vorm Schreiben haben und in ihrer Kreativität gefördert werden.
Deswegen korrigieren viele Grundschullehrer Rechtschreibfehler in den ersten beiden Jahren nur noch sehr spärlich. Das Ergebnis: Viele Kinder gewöhnen sich Falschschreibungen an, die sie sich in späteren Jahren nur mit großen Mühen oder gar nicht mehr abgewöhnen können.
„Das schadet vor allem den Kindern von Migranten und aus bildungsfernen Familien“, kritisiert Philologenpräsident Schmidt. „Kinder aus bildungsnahen Familien werden nicht so sehr benachteiligt, denn da helfen ja die Eltern mit. Die achten darauf, dass ihre Kinder richtig schreiben lernen.“ [….]


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