Montag, 23. Juni 2014

Ich bin alt und konservativ – Teil V


 Ist das jetzt schon ein Zeichen von Altersdemenz, daß ich ständig an meine Kindheit erinnere und den Drang verspüre uninteressante Jugendgeschichten auszuplaudern?
Ich behaupte aber; ich kann nichts dafür, daß ich über Meldungen in den Medien stolpere, die so heftige Assoziationen triggern.

Früher war eben alles besser – auch die Zukunft (Danke R.).

Also Zeitsprung gute drei Dekaden zurück.
Ich war nie sportlich im klassischen Sinne. Es wäre nie in Frage gekommen einem Sportverein beizutreten oder freiwillig in den Schulpausen Fußball zu spielen. Schulsport empfand ich stets als außerordentlich lästig und entwickelte schon im präpubertären Alter eine penetrant besserwisserische Aufmüpfigkeit gegen Sportlehrer.
Für mich galt es immer die Benotung von körperlicher Ertüchtigung möglichst auf ganzer Linie zu sabotieren.
Ziemlich früh entdeckte ich dabei die Macht des Wortes und nervte die Lehrkraft mit Grundsatzdiskussionen.
In der Mittestufe zum Beispiel wurden Sportnoten stets nach leichtathletischen Leistungen vergeben. Für jede Klassenstufe war genau festgelegt wie weit man für welche Note springen, wie schnell man laufen mußte und so weiter.
Das ergab eine perfekte Angriffsfläche für mich, da Johann, der schnellste Läufer unserer Klasse drei Jahre älter war als ich. Er war spät eingeschult und einmal sitzengeblieben, während ich gesprungen war und damit in meiner Stufe stets der Jüngste war.
Statt also beim 100m-Lauf meine relative Langsamkeit zu akzeptieren, erklärte ich kurzerhand das gesamte Notensystem für prinzipiell ungerecht, da ich Johann gegenüber benachteiligt sei. Stattdessen wollte ich nach den Vorgaben von mindestens zwei Klassenstufen tiefer benotet werden, da das meinem Alter entspräche.
Meine Note wurde natürlich nie geändert, aber es war schon ein Erfolg, wenn der Lehrer irgendwann so wütend wurde, daß er mich des Unterrichts verwies.
Ich fand es nur gerecht den Mann zu ärgern, da er mich bei den berüchtigten Mannschaftssportarten immer die demütigende Prozedur durchmachen ließ als letzter in eine Mannschaft gewählt zu werden. Schön ist das ja wirklich nicht, wenn die beiden besten Hand-, Fuß-, Volley- oder Basketballer der Klasse einem gegenüberstehen und sich sichtlich Mühe geben ihre Gruppe so zusammen zu wählen, daß möglichst ICH nicht zu ihnen kam.
Daß ich dem Lehrer coram publico vorwarf offenbar die Grundlagen der Pädagogik in seinem Studium nicht kapiert zu haben, da er die schwächsten Schüler noch zusätzlich demotiviere, half nicht wirklich weiter.
Mein Verhältnis zum Sportunterricht war zerrüttet. Und da ich nicht einsah für etwas benotet zu werden, für das man nichts konnte, blieb mir nur die Obstruktion.
Glücklicherweise wurde in der neunten Klasse Herr Wollmann, genannt „KingKong“ mein Sportlehrer. Mädchen und Jungs waren inzwischen getrennt worden und während die armen Damen der Schöpfung ein ganzes Jahr Schmerzen beim Geräteturnen zu erdulden hatten, war KingKong davon besessen uns zu Windhund-schnellen Eine-Meile-Läufern zu machen.
Eine Meile war vier mal außen um den Sportplatz herum. Also echt lang.
Kettenraucher Kingkong wollte aber unser Lauftraining möglichst gesund gestalten und so joggten wir ca 100 m an der Straße entlang und rasten dann einen alten Wanderweg in eine Schlucht hinunter zu einer großen Wasserschleuse. Es dauerte etwa 20 Minuten dort hinzukommen, dann wurden ein paar Kraftübungen (Situps, Liegestütze u.ä.) veranstaltet, bis sich Herr Wollmann wieder keuchend an die Spitze der Läufer setzte, um aus der Schlucht nach oben zurück zu laufen.
Mein Freund Steffen und ich liefen freilich nur die ersten Hundert Meter am Ende der Gruppe mit, schlugen uns dann kurz in die Büsche und gingen dann in den BOLLE-Laden, der praktischerweise schon um 8.00 Uhr aufmachte.
Wir legten zusammen und kauften, was wir uns leisten konnten. In der Regel eins dieser Billig-Bricks mit Rose-Wein, oder aber, wenn wir flüssiger waren auch eine Flasche Faber-Sekt.
Dann hockten wir auf einer Parkbank, rauchten ein paar Zigaretten, soffen die Flasche aus bis wir den KingKong unter uns keuchen hörten. In dem Fall mußte man schnell ins Gebüsch, um sich wieder hinten anzuschließen. Ich frage mich bis heute, ob der Wollmann wirklich das ganze Jahr nicht gemerkt hat, daß ich nie den Waldlauf mitgemacht habe, oder ob er womöglich sogar froh war mich Nervensäge abgehängt zu haben.
Lustig war jedenfalls, daß ich in der neunten Klasse eine vier in Sport hatte, während mein Kumpel Steffen sogar eine zwei bekam, obwohl der genauso wenig wie ich getan hatte.
Nach der Neunten war leider die schöne Zeit vorbei und beim Sport wurde wieder meine Anwesenheit verlangt. Allein drei Semester verbrachte ich mit Jazzgymnastik, dem Folterkurs für Jungs.
Besonders unangenehm ist mir die Notenvergabe in der SII (zweites Semester 12. Klasse) in Erinnerung, als die semidebile Frau Fass, die sich zuvor keinerlei Mühe gegeben hatte zu verheimlichen wie sie mich verachtete, mich auf einmal sehr mitleidig ansah und verkündete sie wisse einfach nicht, ob sie verantworten könnte mir „über“ zu geben. Oder ob sie durchgreifen müsse und mir ein „unter“ verpassen müsse. Über, unter, drüber, drunter? Wovon sprach das wirre Weib in den pinken Nikki-Hosen? Frau Fass, die ihren irren Gesamteindruck mit winzigen Korkenzieherlöckchen unterstrich und zudem auch nur halb so groß war wie ich, schien mir gerade ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. „Unter oder über“ interpretierte ich als entweder NULL PUNKTE (=6) oder EINEN PUNKT (=5-).
Null Punkte waren eine sehr böse Sache, da das als Arbeitsverweigerung gewertet wurde und ich somit den obligatorischen Sportkurs gar nicht belegt hätte.
Während man Deutsch oder Mathe nur zwei Semesterkurse ins Abi einbringen mußte und somit bei NULL PUNKTEN die Chance hatte in der 13. Klasse (SIII und SIV) noch einmal zu punkten, waren bei Sport alle vier Semester obligatorisch. Einmal Null Punkte hieß also, daß man ein ganzes Jahr wiederholen mußte. Ich war ernsthaft geschockt und mir gefror das überhebliche Grinsen im Gesicht. Ich begann zu diskutieren und hob hervor wann und wobei ich mir doch wirklich Mühe gegeben hätte. Das wiederum mochte die pink-blonde Lockenexplosion vor mir gar nicht und so verhärteten sich die Fronten. Ich rang noch nach Fassung und suchte erbleicht nach einem argumentativen Ausweg, als mein Verstand plötzlich das rettende Wort in dem Fass-Satz „das kann ich nicht als ausreichend bewerten“ entdeckte.
Ausreichend? Das änderte alles. Offenbar hatte sie eine andere Regel im Kopf. Man durfte im Abis insgesamt nur vier Kurse „nicht ausreichend“ haben. Ausreichend (= Note 4) waren fünf Punkte. Darunter verlief die magische Grenze. Vier Punkte (Note 4-) war nicht ausreichend. Die Fass extrapolierte meine grottigen Sportleistungen auf die anderen Fächer und nahm scheinbar an, daß ich noch mehr Kurse mit vier oder weniger Punkten bewertet bekam.
Haha, ich fing an zu grinsen, hakte nach „Sie sprechen als über vier oder fünf Punkte, Frau Fass?“ Die Jazzgymnastin mit der Notengewalt wurde nun ernsthaft wütend und warf mir an den Kopf, daß wenigstens sie an meine Zukunft dächte, wenn mir schon das Abitur egal sei.
Spannend eigentlich. Die Frau verharrte soweit innerhalb ihres Tellerrandes, daß sie sich nicht vorstellen konnte, daß eine demotivierte Nervensäge im Sport in anderen Schulfächern ein sehr guter Schüler sein konnte – zumal ich so ziemlich die höchst aufgetürmtes Haare der Schule trug und außer schwarz und schwarz nur schwarz trug.
„Haha, ach Sie möchten mir gerne nur vier Punkte geben? Bitte gerne, Sport ist mir völlig egal!“
Im Zeugnis standen dann übrigens nur zwei Punkte. Die Fass-Rache für mein ungebührliches Verhalten.
In meinem Abi waren am Ende wie geplant genau die vier Sportkurse alle „nicht ausreichend.“ In keinem anderen Fach geriet ich aber jemals auch nur in die leichteste Gefahr so schlecht abzuschneiden.
Die meisten Lehrer, die ich zu meiner Schulzeit ablehnte, bedauere ich als Erwachsener eher. Wann immer ich mal einen von ihnen später wiedergetroffen habe, behandelte ich ihn mit großem Wohlwollen.
Mit Ausnahme der Sportlehrer, deren Verhalten ich auch jetzt noch ziemlich erbärmlich finde.

Schwelgt man heute in den alten Schulzeiten, könnte man annehmen, daß ich, bzw „wir Schüler generell“ unfitte Weichlinge gewesen wären, weil wir uns solche Mühe gaben uns um den lästigen Sportunterricht herauszuwinden.

Dabei darf man aber nicht vergessen, daß wir noch die Generation ohne Internet und Videospiele waren. Ich wuchs als „Draußen-Kind“ auf. Den ganzen Tag tobte man draußen rum, raste umher, kletterte auf Bäume, fuhr Schlitten, radelte endlose Kilometer täglich, schwamm und war überhaupt immer auf den Beinen.
Ich war (damals) schlank und ob meiner Länge war ich auch später noch beispielsweise bei Umzügen sehr gern gesehen, weil ich eigentlich alles heben konnte und problemlos in jede Etage wuchten konnte.
Die heute gängigen zivilisatorischen Jugendkrankheiten waren „zu meiner Zeit“ entweder noch gar nicht bekannt (Migräne, ADHS, Depressionen), oder aber zumindest sehr selten (Allergien, Brille, Asthma). Und in der gesamten Schule gab es circa drei wirklich dicke Kinder.
Ich erinnere mich nicht, daß einer meiner Mitschüler je Tabletten genommen hätte und die drei, die eine Brille tragen mußte, fielen damit sehr auf.

So sehr ich als Schüler den Sportunterricht bekämpfte, weil ich ihn unfair, unnötig und unattraktiv fand, so sehr sehe ich heute die Notwendigkeit eines körperlichen Trainings bei Kindern ein.
Da müßte sogar erheblich früher angesetzt werden.
Bei den Wal-förmigen ADHS-Blagen, die Philipp Möller („Isch geh Schulhof“) in seinen Grundschulklassen beschreibt, ist das dicke Kind schon im Brunnen.
Wer sich im Alter von Null bis sechs Jahren noch nie bewegt hat und sich ausschließlich von fettigem Fastfood ernährt hat, wird auch mit 2 mal 45 Minuten Schulsport nicht mehr aus seinem physischen Phlegma gerissen.
Im Übrigen wird Sport unter solchen Umständen nur als lästig und anstrengend empfunden.
Seit meiner Schulzeit hat sich offenbar einiges fundamental verändert. Körperliche Trägheit hat exorbitant zugenommen und im Oberstübchen ist auch längst nicht mehr alles richtig verdrahtet bei den Kindern von heute.
Keine Kondition, keine Geschicklichkeit, keine  Motivation nirgends.

Heute stellte das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin die Ergebnisse der sogenannten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KiGGS) vor.
Es sieht nicht gut aus.

    Chronische Erkrankungen: Etwa jeder sechste unter 18-Jährige leidet in Deutschland unter einer chronischen Erkrankung. Dennoch können viele ein normales Leben führen und toben wie ihre Gleichaltrigen. Nur jeder fünfte Betroffene sei durch seine Krankheit eingeschränkt, heißt es in der Studie mit mehr als 12.000 befragten Eltern. Bei den 7- bis 17-Jährigen ist die Migräne die am häufigsten verbreitete Krankheit, fünf Prozent der Kinder klagen über die Kopfschmerzattacken. Bei den Null- bis Sechsjährigen sind Herzkrankheiten mit zwei Prozent Betroffenen am häufigsten, bei den Null- bis Zweijährigen sorgen sich die Eltern vor allem um Fieberkrämpfe.
    Alkohol und Zigaretten: Die Zahlen zum Alkoholkonsum klingen alarmierend. 11,5 Prozent der 11- bis 17-Jährigen trinken sich mindestens einmal im Monat in den Rausch - mit sechs oder mehr alkoholischen Getränken. […]
        Psychische Auffälligkeiten: Forscher sehen bei vielen Kindern die Gefahr, dass sie irgendwann eine psychische Störung entwickeln könnten. Rund ein Fünftel der 3- bis 17-Jährigen bewerteten sie als psychisch grenzwertig auffällig oder auffällig. Die anhaltend hohe Verbreitung psychischer Auffälligkeiten solle einerseits Anlass sein, sich stärker um die Vorbeugung zu kümmern, schreiben die Autoren der Studie . "Andererseits sollten die Ergebnisse auch Anlass dazu geben, die Versorgungsstrukturen zu überprüfen, da psychische Auffälligkeiten und Störungen bei Kindern und Jugendlichen häufig unbehandelt bleiben."
    [….] ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung) [….]  Fünf Prozent aller Heranwachsenden haben nach Auskunft der Eltern der ersten Erhebung zufolge die Diagnose ADHS von einem Arzt oder Psychologen bekommen. Jungen waren mehr als viereinhalbmal häufiger betroffen als Mädchen, Kinder mit niedrigem Sozialstatus mehr als zweieinhalbmal so häufig wie jene aus Familien mit hohem Sozialstatus. Die Folgeuntersuchung ergab im Vergleich zur Ersterhebung keine Veränderung.


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