Sonntag, 20. Dezember 2015

Kälte im Willy-Brandt-Haus.



Seit über 30 Jahren lese ich jetzt schon jede Woche den SPIEGEL.
Die „Montagsaufregung“ wie vor 20 Jahren gibt es nicht mehr.
Damals konnte man es gar nicht erwarten das neue Heft in die Hand zu bekommen, weil man nur im SPIEGEL exklusiv detaillierte politische Hintergründe erfuhr.
Selbstverständlich sind das Informationstempo und die Informationsquantität durch das Internet unermesslich angewachsen.
Selbstverständlich hat der SPIEGEL im Kampf gegen den Auflagenschwund mit Boulevardisierungen und fragwürdigen Personalentscheidungen enorme Fehler gemacht.

Ich bin aber dennoch der Meinung, daß der SPIEGEL immer noch unverzichtbar ist.
Diejenigen, die so locker „der SPIEGEL ist doch scheiße“ rausposaunen, sind in der Regel diejenigen, die ihn ohnehin nicht lesen und es gar nicht beurteilen können.

Eine Stärke aus alten Tagen sind beim SPIEGEL die exzellenten Verbindungen in die höchsten politischen und parteilichen Kreise.
Ich staune immer wieder, wenn in innenpolitischen Artikeln ausführlich wörtlich aus vertraulichen Sitzungen kleinster Kreise berichtet wird.
Wenn sich das Kabinett, das SPD-Präsidium oder Vorstände von DAX-Unternehmen treffen, scheint es immer Teilnehmer zu geben, die anschließend sofort zum SPIEGEL rennen und Details ausplaudern.
Altmaier und Co rennen nicht zu Focus oder HuffPo, sondern immer noch zu dem Leitmedium. Daher ist DER SPIEGEL eben diese besonders gut informierte Quelle.

That said, noch ein paar Bemerkungen zur Lage der SPD nach dem Desaster-Parteitag vom 10.-12.12.15 in Berlin.

Im SPIEGEL-Leitartikel vom 19.12.2015 fordert Markus Feldenkirchen von der SPD „Macht Euch ehrlich“.
Das Verhältnis zwischen Gabriel und der Partei sei zerrüttet. Er müsse abtreten und die Figuren der zweiten Reihe könnten sich nicht mehr so feige zurückhalten, als ob sie nicht dazu gehörten.
Ob es so viel bringt, wenn nach Scharping, Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, Müntefering und Gabriel der Neunte seit dem letzten überzeugenden Parteichef (Engholm) übernimmt, hängt natürlich stark von der zu bestimmenden Person ab.
 Offensichtlich stehen die Schwarzen, die seit 15 Jahren ununterbrochen dieselbe Chefin haben, demoskopisch viel besser da.
Der SPIEGEL geißelt die Feigheit der weiteren Führungsfiguren in der SPD.
Die Stellvertreter Hannelore Kraft, Thorsten Schäfer-Gümbel, Manuela Schwesig, Olaf Scholz, Aydan Özoğuz und Ralf Stegner haben alle keine Lust sich den miesen Job anzutun. Frühestens nachdem die SPD die Bundestagswahl 2017 vergeigt hat.
Pflichtgefühl hatte mal einen anderen Stellenwert.
Steinmeier will gemütlich ins Bundespräsidentenamt einziehen und Nahles ist viel zu faul dazu sich jetzt in aussichtsloser Lage aufzureiben.
Das Parteipräsidium bietet auch keinen einzigen möglichen Kandidaten:
Katarina Barley, Dietmar Nietan, Martin Schulz, Doris Ahnen, Ute Vogt und Florian Pronold.
Der einzige Name, der mir einfällt, ist Heiko Maas. Justizminister, Vorkämpfer gegen Rechtsextremismus und Beisitzer des Bundesvorstands.

Für Gabriel trifft das zu, was Kubicki einst der FDP diagnostizierte, sie sei unter Generalverschiss geraten.
Verblüffend, daß man die linke „taz“ aufschlagen muß, um zu lesen, daß Gabriel eigentlich viel besser als sein Ruf wäre.

Gabriel und die Deutschen, das ist keine Liebesgeschichte. Die Sprunghaftigkeit des SPD-Vorsitzenden und Wirtschaftsministers ist legendär, seine Neigung zu Ungeduld und schlechter Laune auch. Die SPD leidet, oft still und immer öfter laut. Gabriels Ja zur Vorratsdatenspeicherung, sein Nein zu linker Steuerpolitik, der Populismus in der Griechenland-Krise, die verfluchten 25 Prozent in den Umfragen.
Bei alldem geht unter, dass Gabriel manchmal besser ist als sein Ruf.

Die positiven Anlagen, die Korrespondent Schulte ausführt, sehe ich auch alle, habe immer wieder in diesem Blog darauf hingewiesen, was Gabriel kann.
Außerdem rechne ich ihm hoch an, daß er 2009 die Kartoffeln aus dem Feuer geholt hat und sich jetzt in dieser desolaten Lage nicht der Verantwortung entzieht, also nicht einfach hinwirft.

Aber Gabriel trägt auch eine große Mitschuld an dem miesen Ansehen seiner Partei und den 139-mal Nein und 19 Enthaltungen bei der Wiederwahl zum Vorsitzenden.
Sich in der eigenen Parteizentrale externe PR-Berater wie Thomas Hüser zu holen, die vorher in der CDU waren und der SPD öffentlich Niederlagen wünschten, schafft natürlich nicht gerade Vertrauen bei den Parteimitarbeiten.

Und es ist widerlich bei humanistischen Themen mit Blick auf den Mob und die Umfragen einzuknicken. Auch das honorieren SPD-Sympathisanten nicht.
Schon gar nicht, wenn Gabriel immer so tut, als sei er der einzige, der überhaupt wisse wie „das Volk“, oder „die Basis“ ticke.

Zunächst ziemlich irritiert und inzwischen vor allem belustigt verfolgt das Personal im Willy-Brandt-Haus die Zahl der freischaffenden PR- und Politikberater, die der Parteichef um sich versammelt.
Auch sein ständiges Mantra, „fragt doch die Basis oder die Bürgermeister“, nervt viele Genossen nur noch. Als wäre Gabriel der Einzige, der Basiskontakte unterhält und imstande sei zu verstehen, was normale Bürger sich von der Politik wünschen. [….]
Und bis zur letzten Minute versuchte Gabriel – gegen die Landesvorsitzenden Hannelore Kraft (NRW) und Thorsten Schäfer-Gümbel (Hessen) – Formulierungen durchzusetzen, die auf eine stärkere Begrenzung der Migrantenzahlen zielten. „Die Umfragen sagen doch, dass wir wegen der Flüchtlinge in Richtung 20 Prozent gehen“, rief er mit erhobener Stimme in der Sitzung. Hannelore Kraft hielt dagegen: „Wir müssen unsere Leute mitnehmen, wir können nicht nur Richtung Mitte marschieren.“
Aber Gabriel wollte keinen Kompromiss. „Ich ziehe das hier durch“, dröhnte er. Er müsse schließlich die Partei zusammenhalten. „Dann mach du es doch“, brüllte er schließlich Richtung Kraft.
Schließlich wusste er ja, dass die Genossin sein Angebot nicht annehmen würde.
(DER SPIEGEL 19.12.2015)

Punkt für Gabriel: Es ist natürlich schwach von Frau Kraft hinter den Kulissen rumzumäkeln, aber als Ministerpräsidentin des größten und wichtigsten Bundeslandes gar nicht dran zu denken als Kanzlerkandidatin oder Parteivorsitzende ihren Kopf hinzuhalten.

Andererseits hat Kraft inhaltlich Recht. Wie unfassbar erbärmlich bei der Flüchtlingsfrage mit den xenophoben Umfragen zu argumentieren.
Wenn das so stimmte, müßte die CDU noch schlechter dastehen, da ihre Anhänger viel weniger gut auf Hilfesuchende reagieren.

Man muß Gabriel außerdem vorhalten, daß er sich bei anderen Themen überhaupt nicht um die große Mehrheit im Volke schert.
Er propagiert TTIP und stimmte für den von 80% des Volkes scharf abgelehnten Anti-Sterbehilfe-Gesetzentwurf.
Wenn es um Kirchen- und Wirtschaftsinteressen geht, traut sich der Parteichef also unpopuläre Themen gegen die Majorität durchzupauken, aber bei Ausländern knickt er gleich ein. Siehe auch sein Auftritt bei Pegida und die Empfehlung an Griechenland doch den Euroraum zu verlassen.

Da muß man sich nicht wundern den Namen „Zickzack-Sigi“ verpasst zu bekommen.

Und daß er 74% der Stimmen bekam, bedeutet eben auch nicht, daß er all die strittigen Punkte wie Vorratsdatenspeicherung, Waffenexporte und TTIP ein für alle Mal in seinem Sinne von der Parteibasis als entschieden ansehen kann.

Es gibt genügend parteitaktische Gründe Gabriel nicht demontieren zu wollen, ihn nicht gegenüber CSU und CDU schwächen zu wollen, so daß man als SPD-Delegierter für ihn als Vorsitzenden stimmt.
Das heißt aber noch lange nicht, daß man damit auch sein Plazet für TTIP gibt.

Ich glaube nicht, daß Sigmar Gabriel noch in der Lage sein wird für die SPD mehr als 25% bei den Bundestagswahlen rauszuholen.
Wenn sich bloß ein natürlicher Nachfolger anböte.
Einer, der vielleicht 2017 eine Niederlage wegsteckt, ohne gleich wieder demontiert zu werden. Auch Willy Brandt wurde als Parteivorsitzender zweimal als Kanzlerkandidat von der CDU geschlagen, bevor er doch noch Kanzler wurde und zu dem ganz großen Parteivorsitzenden avancierte.
Für mich ist es vorstellbar, daß ein Maas, der jetzt die Partei übernähme im Jahr 2021 oder 2025 eine große SPD-Mehrheit holen könnte.
Aber zehn Jahre an der Parteispitze werden mit diesem Verein vermutlich recht unwahrscheinlich.

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