Donnerstag, 11. Februar 2016

Privates Tagebuch

Bah. Baaaaaah. Ich bin irgendwie deprimiert.
Alles ist so scheiße. Wo man auch hinsieht. Wir werden von Idioten regiert, die noch nicht mal handwerklich in der Lage sind ein Gesetz zu verabschieden, weil sie zu amateurhaft durch den Tag stolpern.
Crazy Horst sagt der gelernten DDR-Bürgerin Merkel durch die Blume sie habe die BRD in einen Unrechtsstaat verwandelt, während Pest-Politiker aus der kraftstrotzenden AfD von Schießbefehlen auf Kinder und Frauen faseln – was nicht etwa zu einem demoskopischen Absturz führt, sondern den Urnenpöbel so begeistert, daß die AfD sogar noch stärker wird.

Außerdem habe ich gerade noch Ärger der ganz unangenehmen Art, privat quasi, im Zusammenhang mit einem Brief, den ich Monat vom Finanzamt erhielt.
Diese Art Briefe, die man eigentlich nie bekommen möchte.
Eigentlich hatte ich beschlossen nie mehr Geld auszugeben und zu dem Zweck für immer in meiner Wohnung sitzen zu bleiben.

Lange hielt ich allerdings nicht durch und ging heute Abend groceryshoppen zu den Fußballern. Unglaublich, aber wahr, ausgerechnet ich Fußball-Hasser kaufe regelmäßig im Laden des Ex-St. Pauli-Fußballtrainers Holger Stanislawski ein.
Der Laden gehört ihm zusammen mit Ex-HSV-Profi Alexander Laas.
Stanislawski und Laas ist aber der große Supermarkt, den ich mit dem Auto am praktischsten erreichen kann.
OK, der neueste EDEKA-Niemerszein Lange Reihe ist wohl noch etwas näher und sehr schick, aber da ist die Non-Food-Abteilung kleiner und ich brauchte heute allerlei Putzmittel.
Außerdem, das gebe ich zu, fühle ich mich in dem Edel-Niemerszein Lange Reihe irgendwie seltsam, weil das ja die schwulste Straße Hamburgs ist – der Kern von St. Gayorg.
Ich mag Schwule sehr gern, aber als ich das letzte Mal in dem Laden war, kam ich mir vor wie ein verlotterter aufgequollener Opa – anscheinend kaufen da nur Models. Alle jung, alle makellose Haut, alle ohne ein Gramm Fett, alle muskelbepackt, alle topmodisch.
Das ist irgendwie schon ein „Problem“ an den Szene-Schwulen. Die sehen alle so unfassbar gut aus, daß man selbst als jemand, der eigentlich nichts auf Äußerlichkeiten gibt, eine leichte Verunsicherung spürt.
Aber die Lange Reihe ist eben DIE Flaniermeile der Hippen. Erstaunlich. Als ich studierte, vor Äonen, fuhr ich immer mit dem Bus durch die Lange Reihe. Da war es da noch richtig finster. Straßenstrich und Drogenumschlagplatz. Abends wollte man da wirklich nicht allein aussteigen. Und jetzt muß man da für eine Eigentumswohnung mindestens 7.000 Euro den Quadratmeter hinlegen. Gentrifizierung wie sie im Buche steht. Und die Homo-Dinks (Double Income No Kids) mit ihrem Geld und Geschmack sind schon irgendwie ursächlich.
Hier entwickelt sich wohl in der Tat eine der gefürchteten Parallelgesellschaften.

Selbst wer noch nie in Hamburg war, hat vermutlich schon von der Reeperbahn gehört. Eine der berühmtesten Rotlichtgegenden der Welt. Auch das ist eine Parallelgesellschaft. Ebenso wie der zu St. Georg („Gayorg“) gehörende Steindamm. Das Abendblatt portraitierte ihn vor einigen Wochen als „Orient am Steindamm in Hamburg.“

St. Georg.  An syrischen Restaurants, türkischen Imbissen, Barbieren und Shisha-Shops schieben sich Frauen mit Kopftüchern und Männer mit dunklen Haaren vorbei. Alle paar Meter drehen sich die Dönerspieße, es gibt Baklava, Apfeltabak und Minztee. Tausend und eine Nacht im Neonlicht der Handyläden. Willkommen in Hamburg, willkommen am Steindamm.
Seitdem die Zahl der Flüchtlinge im Sommer nach oben geschnellt ist, ist hier noch mehr Trubel als ohnehin immer war. Wolfgang Schüler hat die Entwicklung genau beobachtet. Als Quartiersmanager geht er den Steindamm fast jeden Tag auf und ab. [….]
Dass der Steindamm bei vielen Hamburgern immer noch einen schlechten Ruf hat, kann er nicht verstehen. "Anderswo würde man das einfach Little Italy oder China Town nennen und damit werben. Wo ist denn das Problem?" [….] Er findet: Im Moment läuft es richtig gut. "Auch durch die vielen Flüchtlinge, die jeden Tag kommen, wird hier ein richtig gutes Geschäft gemacht. [….]
Dass die Straße mit Flüchtlingen umgehen kann, habe sie schließlich schon mal gezeigt. "In den Neunziger-Jahren war die Situation ähnlich", erinnert sich Schüler. "Da kamen auch Tausende Menschen zusätzlich an den Steindamm, die heute zu guten Nachbarn geworden sind. Und wenn man ehrlich ist, haben sie das Viertel damals vor einem massiven Leerstandsproblem gerettet."
Ob die Zahlen der geflohenen Menschen derzeit zu Problemen führe? Zu Gewalt, Auseinandersetzungen verfeindeter Gruppen oder Diskriminierung? Schüler schaut, als würde man ihn fragen, wann er das letzte Mal zum Mond geflogen ist. "Solche Probleme gibt es hier nicht", sagt er. [….] [….]

Der Hamburger Steindamm IST zwar eine Parallelgesellschaft, allerdings verstehe ich nicht, wieso Parallelgesellschaften jemand stören.
In den meisten anderen großen Städten in Westeuropa und Amerika ist es ganz normal. In New York gibt es das berühmte „Little Italy“ oder „Chinatown“ und sogar ein deutsches Viertel.
Also für mich geht das völlig OK.
Es gibt ja vielfach in Deutschland reine Schwulenviertel, hier ist es St. Georg, das Uni-Viertel (Rotherbaum, wo nur Studenten sind), das Alternativ-Viertel, wo die  Autonomen und Ökos abhängen (Schanze und Karolinenviertel), das Ibero-Viertel vor der Speicherstadt, wo es all die spanischen und portugiesischen Restaurants gibt, Villenviertel in Harvesterhude  und dann natürlich reine Rotlichtviertel (Reeperbahn!) etc.
Warum soll es kein Türken- oder Italiener-Viertel geben?
Das Eigenartige ist in Hamburg, daß St Gayorg – dazu gehört auch der Steindamm – ausgerechnet ein Kombi-Viertel für Schwule und Muslims ist.
Die haben alle Toleranz gelernt. Kurioserweise ist MITTEN in der schwulsten Gegend von St Georg überhaupt der katholische Mariendom, in dem unserer neuer Erzbischof Stefan Heße hockt.
Katholiken gibt es da so gut wie keine – nur Moslems und Homos.
Aber irgendwie haben die sich offensichtlich arrangiert. So gut sogar, daß die Gegend jetzt so gut funktioniert, daß die Mieten auch so explodieren, weil jeder dahin ziehen will.
So etwas Ähnliches gibt es auf der Hamburger Insel „VEDDEL“.
Das war ursprünglich mal der ärmste Stadtteil Hamburgs für die Hafenarbeiter.
Dann wurde es langsam zum reinen Ausländergetto und weil die Mieten in den anderen Stadtteilen so steigen, sind in den letzten Jahren aber viele Studenten dahin gezogen.
Die Mieten sind auf der Veddel immer noch relativ günstig und viel los ist da auch nicht, aber es gilt auch als absolut friedlich und tolerant.

Das hat sich so rumgesprochen, daß auf einmal alle auf die Veddel ziehen wollen.

Stadtteile verändern sich immer und wenn sich Parallelwelten bilden, finde ich das gut.

Stanislawski und Laas liegt in Winterhude, aber dem nicht so schicken Teil des Stadtteils. Es gibt dort in dem Markt noch weitere kleine Läden.
Als ich da heute reinschlurfte, ging ich zuerst zu Shahram Pourkazemi, dem netten Inhaber von tabak lotto presse et cetera, um mir ein Platinum-Rubbellos für zehn Euro zu kaufen. Meine Finanzsituation und so. Ich muß da was unternehmen. Ich schätze Herrn Pourkazemi sehr, aber heute hatte er einen miesen Tag und händigte mir eine totale Niete aus.
Mist, die 500.000 Euro Hauptgewinn hatte ich schon fest eingeplant.


Macht nichts, nebenan bei den herzlichen Türken von „Feinkost Kaya“ wurde ich wie immer freudestrahlend begrüßt und sofort animiert alles Mögliche zu probieren. Die Jungs da sind nicht zu bremsen. Und jedes Mal, wenn man zu Hause seine Kaya-Tüte auspackt, haben sie einem noch zusätzliche Köstlichkeiten geschenkt.

Im eigentlichen Markt diskutierte ich dann mit Frau Wagner aus Kasachstan, der Käse-Dame, darüber wie man „Alter Schwede“ heiß macht. Sie tut den in die Mikrowelle. Ach Du Schreck. So etwas wage ich nicht. Dafür habe ich ihr aber noch einmal genau erklärt, wie man meinen berühmten amerikanischen Roquefort-Blumenkohl-Dip macht. Hatte ich ihr schon vor einigen Wochen mal erklärt, aber sie mußte noch mal nachhaken.
Da sie allein war, mochte ich nicht so lange wie üblich im Plausch verweilen, weil neben mir schon andere Kunden warteten. Eine junge blonde Frau, die mich aus dem Augenwinkel an die Tochter einer Freundin erinnerte.
Sie schmiegte sich an ihre dunkelhaarige Freundin, Fröhlich glucksend steckten sie die Köpfe an der Auslage zusammen und debattierten, was sie noch zu Hause hätten und was gekauft werden müsse.
Ich glaube, es war ein lesbisches Paar. Aber wer weiß das schon so genau heute? Vielleicht waren es auch sehr vertraute Freundinnen, die zusammen wohnen.
Inzwischen fragte ein Mann links neben mir nach, ob ich den Blumenkohl wirklich roh äße. Ja, natürlich! Das ist das Geheimnis! Den isst man nur roh.

Man kommt auch in so einer Normalogegend schlecht voran, wenn man sich einigermaßen freundlich benimmt und dadurch in viele Gespräche verwickelt wird.
An der Kasse steuerte ich auf meine Lieblingskassiererin zu, von der ich peinlicherweise nicht den Namen weiß. Normalerweise gebe ich mir immer so große Mühe Menschen mit ihrem Namen anzureden. Aber diese Kassiererin, eine richtig schwarze Kubanerin ist immer so herzlich zu mir, daß ich immer das Gefühl habe wir kennen uns schon ewig und wären befreundet. Da ist der Punkt irgendwie verpasst, an dem man noch fragen kann „wie heißen sie eigentlich?“.
Wir stimmten gerade voller Verve darüber überein wie gut es wäre in einer Gegend der Welt zu leben, die über Jahreszeiten verfüge. Wie albern es doch sei schlechtes Wetter zu beklagen, es wäre doch langweilig immer die gleiche Witterung zu haben. So wie in Kalifornien. Schrecklich.
Allerdings stimmten wir auch darin überein, daß Tropennächte großer Mist sind. Wenn die Stadt nicht abkühlt nachts im Hochsommer und man deswegen nicht schlafen kann.
Das fand dann auch der Mann, den ich schon an der Käsetheke gesehen hatte, der seinen Freund dabei kichernd in die Seite buffte.

Auf dem Rückweg dachte ich daran, wie sich ein Mitschüler von mir mit 16 geoutet hatte und was das für ein Donnerwetter bei seinen Eltern gab. Auf dem Pausenhof haben sich einige meiner Freunde und ich immer schützend in seine Nähe gestellt, weil doch recht unfreundliche Kommentare dazu kamen.

So scheiße heute alles ist, aber wenn ich mich heute beim Einkaufen so umsehe, muß ich sagen, daß wir Kinder der 80er es weit gebracht haben.
In einer völlig durchschnittlichen Gegend ohne Glamour laufen abends Lesben, Schwule, Schwarze, Iraner und sogar ich umher – und es interessiert keinen Menschen. Keiner guckt komisch, wenn Männer Händchen halten und die Menschen um einen herum haben alle Hautfarben, die man sich denken kann.
Die Apotheke von Dr. Behrouz Effat Parvar, in der ich noch etwas Lavendelöl kaufte, ist die freundlichste, die man sich denken kann. Niemand quakt rum, weil die Inhaber Kopftuch tragen.

Für Seehofer, Petry, Scheuer, Höcke, Kuby, Kelle, Beverfoerde, Berger, Söder und Gauland mag das alles ein Alptraum sein, aber ich finde es klasse.
Ich möchte nicht mehr in einer homogen-weißen-hetero-deutschen-Christengesellschaft leben.



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