Mittwoch, 6. Dezember 2017

Weihnachtswahn.


Gerade komme ich vom Groceryshopping bei meinem REWE.
Für einen Supermarkt ist dieser REWE recht angenehm, weil er so groß ist, daß man nicht mit anderen Kunden kollidiert und insbesondere, weil dort keine Hintergrundmusik läuft.
Um 22.00 Uhr da zu sein ist besonders gut, weil dann auch keine lärmigen Kinder mehr durch die Gänge toben.
Allerdings begegnete ich einem entfernten Bekannten, der mir erklärte, ohne daß ich ihn dazu aufgefordert hätte, wie ihn die vielen Stände mit Weihnachtsdekoration, Glühwein und Stollen nervten.

Ich sah mich kurz um; tatsächlich. Alles voll mit dem Zeug.
Offenbar habe ich mir inzwischen einen derartigen Tunnelblick angewöhnt, daß ich die saisonalen Dinge, die mich nicht interessieren, gar nicht wahrnehme.
Meine Mutter fuhr vor ca 20 Jahren mal einen schwarzen Fiat Barchetta mit Hardtop. Wirklich ein süßes Auto, das durch seine runden Formen so extravagant wirkte.









„So ein kurioses Auto hast Du noch nie gesehen“ sagte ich zu einer Freundin, die ich von der Arbeit abholte. Barchetta kannte sie nicht. Kurze Zeit später fuhr ein anderer Barchetta auf der Nebenspur. Ich konnte es nicht fassen, weil ich annahm, meine Mutter fahre den Einzigen weit und breit. Aber weit gefehlt. Wenn man drauf achtet, sieht man die Dinger an jeder Ecke. Das war mir nur früher nie aufgefallen, weil mich Autos nicht interessieren.

Genauso erging es mir einst, als ich völlig geschockt ob meiner MINUS-EIN-VIERTEL-DIOPTRIN-Diagnose vom Augenarzt kam, der mir empfahl mit einem Optiker zu sprechen. Meine erste Brille wäre fällig. BRILLE? Optiker? Ich kannte keine Optiker. Wie findet man so einen? Wo muss man denn da ganz hinfahren?
Auf dem kurzen Weg nach Hause dann die Überraschung – sage und schreibe fünf Brillengeschäfte zählte ich beim Vorbeifahren. Die gibt es wie Sand am Meer. Ich hatte nur nie vorher einen wahrgenommen, da ich selbst keine Brille trug.

Wenn mir also nicht gerade in penetranter Lautstärke irgendwo in der Öffentlichkeit „Stille Nacht“ vorgespielt wird, bemerke ich weihnachtliche Dekoration nicht.
Klar, wenn man drauf hingewiesen wird, ist der REWE voll mit dem Zeug. Aber wen wundert es? Schließlich ist morgen schon Nikolaus.
Offensichtlich gibt es haufenweise Kinder und Eltern, die dem entsprechenden Konsumzwang frönen.
Für mich ist das aber zu lang her. Weihnachten, Silvester, Ostern und Co ignoriere ich seit mehr als drei Dekaden.
Meine Mutter pflegte auf die Frage „was machst du Weihnachten?“ zu antworten „da gehe ich nicht hin!“

Wie viele Menschen habe auch ich etwas rosige Kindheitserinnerungen an Weihnachten, das wir bei meiner Oma mütterlicherseits begingen.
Meine Oma starb aber 1982; der 24.12. 1982 war das erste Weihnachten ohne sie und endete in allgemeiner Depression.
Wie sich herausstellte, hing der Rest weniger an dem christlichen Fest, der Tradition oder den Geschenken, denn an meiner Oma, die eine sehr besondere Stellung innerhalb der Familie einnahm. 
Sie wurde geliebt, war aber auch gleichzeitig Autorität. Mein Oma war eine extrem elegante und selbstbewußte Frau, die schon im 1. Weltkrieg einen Führerschein machte und in den 20er Jahren in einem Cabrio durch die Stadt düste; ihre beiden ältesten Kinder hinten auf dem aufgeklappten Notsitz.
Sie hielt die Familie, die längst nicht mehr zusammenwohnte, zusammen.
 Ich bewunderte sie grenzenlos und wußte wohl schon als Kind instinktiv, daß wir nachfolgenden Generationen verglichen mit ihr alle Proleten waren; nie so viel Haltung zeigen könnten.
Haltung in vielfachem Sinne. Im ganz hohen Alter saß sie immer kerzengerade, hätte niemals gejammert oder sich gehen lassen.
In den 1930ern ging sie bewußt im hellen Tageslicht zu ihren jüdischen Schneidern, denen die Familie seit Generationen verbunden war. 
Es ging ihr womöglich gar nicht so sehr darum ein Zeichen zu setzen oder der Gestapo zu trotzen. Aber ihr persönlicher Anstand erforderte es zu ihnen so höflich wie immer zu bleiben.
Es gab dann einige anonyme Anzeigen gegen sie, weil die Deutschen nun mal zu gerne denunzieren. Aber auch das Nazi-Regime zeichnete sich durch eine gewisse Willkür aus, so daß sich meine Oma immer wieder herausreden konnte.
So eine Frau war meine Oma und nach dem Weihnachten 1982 ohne sie, sagte meine Mutter aller weiteren Weihnachtsfeiern für den Rest ihres Lebens ab.
Ich fand das nur konsequent. Die Generation meiner Oma, die noch im 19. Jahrhundert geboren wurde, war ausgestorben.
 Einige Jahre später; ich wohnte zum erstem mal allein, studierte, wurde mir erstmals bewußt, wie viel Glück im Unglück ich hatte.
Freunde, die in anderen Ländern oder Städten studierten, kamen über Weihnachten nach Hamburg, riefen mich an, wunderten sich, wie ich die Tage ganz allein verbringen konnte. Bis zum 25.12., spätestens 26.12. – da riefen sie wieder an, auf der Flucht vor ihrer eigenen Familie.
„Kann ich vorbei kommen? Ich halte das hier nicht mehr aus. Du machst es richtig!“
Ich begann mich privilegiert zu fühlen.
War das ein Glück, daß ich diesen Kaufrausch, das Singen und „festliche Beisammensein“ nicht mitmachen musste.
Das Wort „chillen“ war noch lange nicht erfunden, aber tatsächlich chillte ich in diesen Tagen. Zu keiner anderen Zeit im Jahr hat man als Großstadtbewohner in einem Mietshaus mit kleinen Wohnungen so eine Ruhe.
Schließlich wohnen in den umliegenden Wohnungen fast nur Singles, die zu diesem Familienfest ihre Verwandten in größeren Behausungen aufsuchen.
Drei Tage völlige Ruhe. Kann es etwas Schöneres geben?

Inzwischen habe ich vergessen, daß es familiäre Zwänge, gesellschaftliche Konventionen und christliche Riten gibt, die eine Weihnachtsfeier erfordern.

Seit einiger Zeit lese ich allerdings wieder in den sozialen Netzwerken Postings wie dieses.


Angeblich soll es zur Feier von Christi Geburt die meisten Suizide geben, weil den Menschen ihre Einsamkeit so schmerzlich bewußt wird.
Ich konnte dafür keinen klaren Beleg ergoogeln.
Aber scheinbar gibt es selbst in einer Stadt wie Hamburg, in der mehr als 50% der Wohnungen Singlehaushalte sind, massenhaft Menschen, die sich durch diese Feiertage sozial derartig unter Druck gesetzt fühlen, daß sie bei Nichterfüllen des angemessenen Festprogramms schon Wochen vorher in Depressionen versinken.

Ich verstehe es aber nicht. Wir haben das Jahr 2017, das Internet, leben weitgehend säkular und selbstbestimmt.
Wie kann das Nichtfeiern eines  Festes, das dem Konsum huldigt und heidnische Bräuche mit einer Ekelreligion verquickt, Menschen so verunsichern?

Macht Euch frei von Weihnachten.
Kein (erwachsener) Mensch braucht das.

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