Freitag, 31. März 2017

Reich fallen.

Das ist das Schöne an einen Job im Bundeskabinett unter Angela Merkel; man kann noch so grotesk versagen, auf noch so abenteuerliche Weise unqualifiziert sein; die Chefin stört das nicht.
Man kann maximalen Stumpfsinn verzapfen und bleibt wie Alexander Dobrindt doch immer Minister.
Das klappt sogar noch eine Ebene höher. Wie oft schon hat sich Günther Oettinger als größter Depp Europas bewiesen – und dennoch beläßt Merkel ihn kontinuierlich auf den mächtigsten Posten, den ein Deutscher in der EU besetzt.
Ohne irgendwelche Europapolitische Erfahrungen stieg der Mann im Februar 2010 zum EU-Energiekommissar auf, debakuliert nun seit mehr als sieben Jahren auf höchster Ebene. Der Mann dreht frei. Merkel ist es offensichtlich Wurscht.

Franz Josef Jung, Kristina Schröder, Ronald Pofalla, Michl Glos, Hermann Gröhe, Thomas de Maizière, Hans Peter Friedrich, Peter Ramsauer – die Liste ihrer kapitalen Kabinetts-Fehlbesetzungen ist lang.

Nicht nur läßt Merkel ihre Kabinettsflaschen gewähren, nein anschließend wird auch noch richtig dreist Lobbyismus betrieben.
Merkel hat nach 27 Jahren in der ersten Reihe der Politik immer noch nicht das geringste Gespür für politische Hygiene entwickelt.
Ackermann-Geburtstagssause im Kanzleramt, fliegende Wechsel von den Toppositionen im öffentlichen Rundfunk in die Regierung und zurück, Lobbyisten schreiben direkt in den Ministerien ihre Gesetze, Minister werden Lobbyisten.
Geschmäckle egal.

[…..] Der ehemalige Verteidigungsminister und Rheingauer CDU-Politiker Franz Josef Jung (CDU) soll in den Aufsichtsrat des Rüstungskonzerns Rheinmetall einziehen. "Kein gutes Signal", finden Kritiker.
Der 68 Jahre alte CDU-Politiker Jung solle auf der Hauptversammlung am 9. Mai in das Kontrollgremium des Rüstungskonzerns gewählt werden, berichtete Die Welt am Freitag. Ein Rheinmetall-Sprecher begründete die geplante Berufung mit der Expertise von Jung im Verteidigungsbereich. Die Anti-Korruptions-Organisation LobbyControl kritisierte die Personalie.
"Es ist nicht überraschend, aber zugleich bedauerlich, dass nun mit Herrn Jung ein weiterer Ex-Minister bei Rheinmetall anheuert", sagte LobbyControl-Sprecher Timo Lange dem Tagesspiegel. Der Rüstungskonzern, der zugleich auch Automobilzulieferer ist, baue damit sein politisches Kontaktnetzwerk weiter aus.
Dass gerade ein ehemaliger Verteidigungsminister zu einem Rüstungsunternehmen wechsle, "sendet aber kein gutes Signal", betonte Lange. "Hier hätten wir von Herrn Jung mehr Fingerspitzengefühl erwartet." Rein rechtlich gesehen, sei die Personalie aufgrund des langen Abstands zu seiner Zeit als Minister aber nicht zu beanstanden. [….]

Es verwundert wenig angesichts der Merkelschen Rüstungsexport-Rekorde, daß engste Bande zwischen CDU-Regierungsmitgliedern und der Waffenindustirie bestehen.
Man kennt das ja von der Kanzlerin.

Völlig ungeniert halten Unions- und FDP-Minister die Hände auf; lassen sich schmieren.

Seit November weiß Merkel, daß Pofalla beim Staatskonzern Deutsche Bahn richtig abkassieren will und kam trotz der Vorgängerfälle Hildegard Müller und Ecki von Klaeden nicht auf die Idee, daß es ein schlechtes Licht auf sie wirft.
Ist es ihr egal, was man über ihre Moral denkt?
Oder denkt sie sich (womöglich zu Recht), daß sie so extrem adoriert wird, daß an ihr doch nie etwas hängenbleibt?

Warum sollte man ihre Teflonbeschichtung auch ausgerechnet im Jahr Neun ihrer Kanzlerschaft erste Kratzer zufügen?
Ausgerechnet jetzt, während sie einen völlig willenlosen und willfährigen Koalitionspartner hat, der devot und still die causa Pofalla mitmacht.

[….] Bei Klaeden und Pofalla zeigt die Kanzlerin überraschende Schwächen in politischen Stilfragen.
Neulich beim kleinen Parteitag der CDU machte Angela Merkel während des Einzugs in den Tagungssaal plötzlich einen Abstecher von der vorgesehenen Route. Die Kanzlerin zwängte sich in eine der ziemlich engen Delegiertenreihen und reichte einer dunkelhaarigen Frau die Hand. "Ich muss ja die Wirtschaft begrüßen", sagte Merkel fröhlich in die Gesichter der umstehenden Parteifreunde, die nicht persönlich willkommen geheißen wurden. Die Frau hieß Hildegard Müller, war in Merkels erster Regierung drei Jahre lang Staatsministerin im Kanzleramt, galt als Vertraute der Chefin - und wechselte 2008 als Geschäftsführerin zum Hauptverband der Energie- und Wasserwirtschaft.
Aus Sicht mancher Kritiker war Müller eine Art Eva in der Beziehungsgeschichte zwischen dem Kanzleramt Merkels und der äußeren Welt, weil sie als Erste der Versuchung nicht widerstand, ihr politisches Amt gegen einen anderen Posten einzutauschen. [….]
Von Hildegard Müller zum mutmaßlichen neuen Bahn-Vorstand Ronald Pofalla zieht sich seither jedenfalls eine Kette aus ehemaligen engen und engsten Mitarbeitern Merkels, deren Gemeinsamkeit zunächst darin besteht, dass sie es alle nicht so lange im Kanzleramt ausgehalten haben wie die Frau, für die sie arbeiteten.
Man könnte es aber auch so sehen, dass Merkel in acht Jahren Kanzlerschaft ein Netzwerk von Vertrauten in einflussreichen Positionen geknüpft hat: Müller verdingte sich bei der Stromindustrie; ihren Wirtschaftsberater Jens Weidmann machte Merkel zum Bundesbankpräsidenten; ihr erster Regierungssprecher Ulrich Wilhelm wurde Intendant des Bayerischen Rundfunks; Ex-Staatsminister Eckart von Klaeden arbeitet jetzt als Cheflobbyist der Daimler AG - und Ronald Pofalla künftig in vergleichbarer Position bei der Bahn. [….]

So beschädigt Merkel das Image der Politik
Im Fall Pofalla möchte Merkel Abstand zeigen, ohne Abstand zu nehmen. Man kann nur hoffen, dass sie damit nicht durchkommt. Denn als Regierungschefin ist die Kanzlerin mit für die Affäre verantwortlich.
[….] Merkel lässt ausrichten, sie habe dem Ex-Minister "ihren Überzeugungen entsprechend" geraten, vor einem Wechsel eine "gewisse zeitliche Distanz" herzustellen. Dass es diese Distanz nun nicht gibt, will sie aber nicht kritisieren. Merkel möchte Abstand zeigen, ohne Abstand zu nehmen.
Man kann nur hoffen, dass die Kanzlerin mit dieser Pontia-Pilatus-Nummer nicht durchkommt. Denn der Fall offenbart nicht nur eine erschütternde Stillosigkeit im Umgang mit höchsten Staatsämtern, er schadet auch der Akzeptanz des gesamten politischen Systems. [….] Die Kanzlerin hat Staatsminister Eckart von Klaeden selbst nach der Ankündigung des Wechsels zu Daimler nicht entlassen. Und jetzt durfte sich auch noch Pofalla aus dem Kanzleramt heraus um einen hochdotierten Job bemühen. [….]

Merkel empfindet allerdings immer weniger Scham und Anstand.
Wieder geht einer ihrer engsten Mitarbeiter, der vorher die perfekten Industrie-freundlichen Regelungen formulierte auf direktem Weg zu den Auftraggebern – als hätte es die Fälle Pofalla, von Klaeden und Müller nie gegeben.

CDU-Staatssekretär Steffen Kampeter wird Cheflobbyist der Arbeitgeber. Der CDU-Staatssekretär im Bundesfinanzministerium startet im nächsten Jahr.
Die meisten Menschen kennen Reinhard Göhner nicht, aber Reinhard Göhner kennt so ziemlich alle Menschen, die in Berlin wichtig sind. Kein anderer Lobbyist in der Hauptstadt ist so gut vernetzt wie der Hauptgeschäftsführer der BDA, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. 19 Jahre hat Göhner, einst Staatssekretär im Bundesjustiz- und im Bundeswirtschaftsministerium, diesen einflussreichen Job ausgeübt; und er wird ihn, wie die BDA am Dienstag bekannt gab, im Juli 2016 an jemanden übergeben, der - wenn man die Lebensläufe vergleicht - geradezu prädestiniert ist dafür.
Auch Steffen Kampeter, 52, ist Parlamentarischer Staatssekretär; auch er gehört der CDU an und saß viele Jahre, genauer genommen: ein Vierteljahrhundert, im Bundestag; auch er wurde in Ostwestfalen geboren: nicht in Bünde, so wie Göhner, aber nur 35 Kilometer entfernt in Minden. Und noch etwas hat Kampeter mit seinem Vorgänger gemein: Er ist bestens vernetzt; in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien; er ist einer, der seine Kontakte hegt, sie pflegt und sie zu nutzen weiß. [….]

All das kann man in den ganz normalen Nachrichten verfolgen, den ganz normalen Zeitungen lesen.
Aber es tut Merkels Maxi-Popularität nicht den geringsten Abbruch.
Die Deutschen wollen offensichtlich verarscht werden.


Donnerstag, 30. März 2017

Keine Pinkelpause, kein Schlaf

Üblicherweise lebe ich sehr gern in Hamburg, aber die täglich neuen Dramatisierungen des G20-Gipfels im Juli nerven ganz schön.
Zigtausende Polizisten, 200.000 Gegendemonstranten, Verbarrikadierung der halben Stadt.


Der "Gruppe der Zwanzig" gehören 19 Staaten sowie die Europäische Union an. Die Länder sind: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und die USA.
Die G20-Staaten erzielen etwa 80 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt (BIP).
 […..] Drei Viertel des Welthandels werden von den Staaten der G20 getätigt. Die vier größten Exportnationen sind China, die USA, Deutschland und Japan. […..]
Rund zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in den G20-Mitgliedsländern.
[…..]  Darüber hinaus nehmen an den G20-Treffen auf Einladung der jeweiligen Präsidentschaft regelmäßig auch Internationale Organisationen teil. Dazu gehören die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), der Internationale Währungsfonds (IWF), der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board - FSB), die Weltbank (WB), die Welthandelsorganisation (WTO) und die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie die Vereinten Nationen (UN). Die deutsche G20-Präsidentschaft hat 2017 zudem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingeladen.
[…..] An den G20-Gipfeln nimmt Spanien als ständiger Gast teil. Darüber hinaus kann die Präsidentschaft Vertreter von Regionalorganisationen und Gäste zur Teilnahme am G20-Gipfel einladen. Die deutsche Präsidentschaft hat Norwegen, die Niederlande und Singapur als Partnerländer zum G20-Prozess eingeladen sowie die Afrikanische Union (AU),vertreten durch Guinea, die durch Vietnam vertretene Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und die Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas (NEPAD), vertreten durch Senegal.

Auf die Gefahr hin nach einem Klischee-St. Florian zu klingen; aber muß das ausgerechnet in der Hamburger Innenstadt, „nur einen Steinwurf entfernt“ vom linksautonomen Schanzenviertel stattfinden?

Natürlich ist es sinnvoll, wenn sich die G20-Regierungen austauschen und genau kennenlernen. Natürlich ist es sinnlos, daß der G8 schmollend Putin ausschloss und sich zum G7 machte. Als ob Russland von der Weltkarte verschwände, wenn man nicht mehr mit der Regierung spricht.
Weltdiplomatie auf Sandkasteniveau.
Mit Freunden kann jeder sprechen. Viel wichtiger ist es sich mit den Gegnern auszutauschen.

Ob dafür aber so ein Monstergipfel mit Myriaden Delegierten taugt?
Ganz sicher hatte sich Helmut Schmidt das nicht so vorgestellt, als er die G6 ins Leben rief.
Es sollte, im diametralen Gegenteil, eine Möglichkeit sein frei von Zeitdruck und protokollarischen Zwängen ausführlich auf Augenhöhe diskutieren zu können.

Auf Giscards Einladung trafen sich die Regierungschefs der Vereinigten Staaten, Japans, Englands, Italiens und der Bundesrepublik Mitte November auf Schloß Rambouillet in der Nähe von Paris, dazu die Finanz- und Außenminister der sechs Staaten. Das Schloß war angenehmerweise nicht allzu geräumig, die Konferenz fand in einem relativ kleinen Saale statt, die Schlafzimmer der Chefs lagen eng beieinander, und Presse und Fernsehen waren weit weg außerhalb des Parks – Valéry hatte es verstanden, eine nachbarschaftliche, freundschaftliche Atmosphäre herzustellen. Er leitete das Gespräch mit Courtoisie und elegant mit leichter Hand; Aus der Rückschau erscheint mir als das wichtigste Ergebnis nicht etwa die Liste der von ihr getroffenen positiven Verabredungen, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie einen Rückfall der ganzen Welt in beggar-my-neighbour-Politiken abgewendet hat. Es wurde verhindert, daß die beteiligten Regierungen sich den Verblendungen des Protektionismus und des Inflationismus hingaben.
Natürlich zahlte sich Rambouillet nicht nur in der Verhinderung weltwirtschaftlichen Unfugs aus, sondern es trug nebenher innenpolitisch zum Ansehen des Gastgebers bei. Beides war Grund genug für Gerald Ford, 1976 zu einem zweiten Treffen dieser Art einzuladen, diesmal unter Beteiligung Kanadas durch meinen Freund Pierre Trudeau. [….]

Mit der damaligen Atmosphäre wird die Hamburger Tagung am 07. Und 08. Juli gar nichts mehr zu tun haben. Man trifft sich auf 46 Hektar Fläche des Messegeländes bei Planten und Blomen.

Der Gipfel ist eine diplomatische Großveranstaltung mit mehr als 6000 hochrangigen Delegierten und über 3000 nationalen und internationalen Medienvertretern. Hinzu kommen unzählige Helfer. Zusätzlich werden mehrere tausend Sicherheitsbeamte im Einsatz sein. [….]

Mit wie vielen von insgesamt rund 10.000 Teilnehmern kann man wohl reden innerhalb von 48 Stunden?

Zwei Tage Gesprächsmarathon mit Extrem-Delegationshopping.
Da kann jeder jedem mal schnell guten Tag sagen und muß sich dann sehr beeilen, um noch ein Bild davon in die Presse zu bekommen.

Das wird wieder ein Festival der starken Blasen und Schlafabstinenzler.

[…..] Bei Shake­speare kön­nen die Kö­ni­ge nicht schla­fen, aus Sor­ge, dass das Reich zer­fällt oder die Fein­de sie stür­zen. Sta­lin ließ sein Büro nicht dun­kel wer­den. „Im Kreml brennt noch Licht“ be­deu­te­te: Sta­lin ar­bei­tet im­mer, er braucht kei­nen Schlaf, er ist nicht von die­ser Welt. Die Kon­kur­renz der Mäch­ti­gen dar­um, wer we­ni­ger Schlaf braucht, gibt es seit Ewig­kei­ten.

Tony Blair sag­te Mer­kel ein­mal, Po­li­ti­ker stürz­ten manch­mal, weil ih­nen in der Kri­se die ent­schei­den­den zwei Stun­den Schlaf fehl­ten.
Vie­le Po­li­ti­ker ge­ben in In­ter­views da­mit an, dass sie mit we­nig Schlaf aus­kä­men. In Ame­ri­ka hat der Prä­si­dent so gut wie kei­ne Abend­ter­mi­ne, den­noch sag­te Oba­ma im­mer, dass er nur fünf Stun­den schla­fe. Es scheint, als wäre Schlaf­lo­sig­keit ein an­de­res Wort für Dis­zi­plin.
Mer­kel sei ein „Nacht­tier“, sagt je­mand, der oft bei lan­gen Ver­hand­lungs­näch­ten im Kanz­ler­amt da­bei ist. Er sagt: „Sie gibt nie als Ers­te auf.“ Bei Ko­ali­ti­ons­ver­hand­lun­gen wol­le Ga­bri­el meist früh zu­rück nach Gos­lar. Ein we­nig spä­ter sage Vol­ker Kau­der manch­mal: „Das war ein har­ter Tag, wol­len wir Schluss ma­chen?“ Von Mer­kel ist so et­was nicht über­lie­fert. [….]
(DER SPIEGEL, 12/2017 s.21)

Was für ein Unsinn.
Politiker demonstrieren Stärke durch physische Pein?
Was kommt als Nächstes, bekommt derjenige das beste Verhandlungsergebnis, der den brutalsten Bußgürtel trägt und sich am längsten mit der Neunschwänzigen geißelt?

Ich plädiere dafür diese Gipfel extrem umzugestalten.

1.)

Jeder Regierungschef soll mit maximal fünf Beratern anrücken.

2.)

Die Treffen finden abgeschirmt und nicht inmitten von 3.000 Kamerateams statt.

3.)

Gipfelort wird nicht mehr eine maximal aufmerksamkeitserheischende Großstadt, sondern eine abgelegene Insel, oder ein Schiff.

4.)

Statt 48 Stunden bekommen die Delegierten zwei Wochen Zeit. Genug, um zwischendurch auch zu schlafen.

5.)

Die Tagesordnung wird so entrümpelt, daß jedes Thema ausreichend detailliert besprochen werden kann.

In so einem Rahmen wäre es sinnlos für Trump, Putin und Erdogan sich als starker Max zu inszenieren. Sie könnten sich nicht vor der Twittergemeinde aufblasen, sondern müßten auf ihre Argumente setzen.

Selbst wenn inhaltlich nichts, oder kaum etwas erreicht würde, so wäre ein intimes und genaues Kennenlernen von Wert.
In so einer Klausur-Atmosphäre würde man die handelnden Personen genau einzuschätzen lernen.
Und selbst wenn einer wie beispielsweise Trump sich intellektuell als untauglich und charakterlich destruktiv erwiese, wäre es für die anderen eine wichtige gemeinsame Erfahrung dies zu erkennen. Für die Zukunft könnte man sich ersparen dem US-Präsidenten etwas zu erklären und andere Allianzen bilden.

Mittwoch, 29. März 2017

Was wir uns nicht leisten können.

Wenn man ganz ganz arm ist, braucht man sich nicht um seine Alterssicherung sorgen, weil man ohnehin nicht die Mittel hat privat vorzusorgen.
Ganz ähnlich ergeht es den ganz, ganz Reichen. Dank der intensiven Lobbytätigkeit und Geldspenden an die Parteien wurde das Steuersystem so gestaltet, daß sie quasi von allein immer reicher werden und dafür prozentual auch noch erheblich wenige Steuern zahlen, als ein x-beliebiger Angestellter mit vierstelligem Monatseinkommen.

Warren Buffett zahlt weniger Steuern als seine Sekretärin Debbie Bosanek; geschätztes Jahreseinkommen: 50.000 Dollar, für die sie etwa 36 Prozent Steuern zahlt. Ihr Boss zahlt gute 14%.
Multimillionär Mitt Romney zahlte 12,9% Steuern auf seine 22 Millionen Dollar Kapitaleinkünfte.

Das ist so offensichtlich ungerecht, daß amerikanische Millionäre schon seit Jahren regelrecht darum betteln mehr Steuern zu zahlen.

[….] "Erhöht die Steuern für Millionäre". Das fordern nicht etwa linke Aktivisten, sondern 80 Vermögende aus New York. Unter anderem unterzeichneten George Soros, Steven Rockefeller und Abigail Disney den offenen Brief, der am Dienstag veröffentlicht wurde.
Das Schreiben ist an den demokratischen Gouverneur von New York, Andrew Cuomo, gerichtet. Aus Sicht der Unterzeichner sollten Top-Verdiener mehr für Schulen, Straßenbau oder Programme für Arme und Obdachlose bezahlen. […..]

Andere Superreiche denken stattdessen lieber an ihr eigenes Wohl und spenden für Konservative.
Für ihr intensives Däumchendrehen und konzentriertes Chillen wuchs beispielweise das Vermögen der Susanne Klatten, geborene Quandt, im vergangenen Jahr um zwei Milliarden Euro.

Susanne Klatten gewinnt zwei Milliarden Dollar hinzu
[….] Schwer genervt ist Susanne Klatten, 54, wenn sie immer nur als die reichste Frau Deutschlands tituliert wird. "Das beschreibt den Menschen nicht, das beschreibt nur einen Status", klagte die Multimilliardärin im vergangenen Sommer in der Zeit. [….] Umso besser läuft es bei BMW. Gemeinsam sind die Geschwister - ihre Mutter Johanna ist vor zwei Jahren gestorben - Großaktionär. Die Dividende wird erneut angehoben, und die Quandt-Erben bekommen alleine etwas mehr als eine Milliarde Euro ausgeschüttet. Auch viele andere Beteiligungen laufen gut, zur Freude Klattens. Gerade wurde wieder die Liste der reichsten Menschen der Welt veröffentlicht, berechnet von dem auf die Superreichen spezialisierten US-Magazin Forbes. Für Susanne Klatten reicht es in der Hitliste auf Platz 38, ihr Vermögen wird jetzt auf 20,4 Milliarden Dollar taxiert, immerhin knapp zwei Milliarden Dollar mehr als 2016. Der jüngere Bruder Stefan Quandt liegt mit 18,3 Milliarden Dollar auf Platz 47. [….]

Ich bin übrigens gar kein Linksradikaler, der Frau Klatten und Herrn Quandt alles wegnehmen will. Reichtum an sich stört mich nicht. Ich halte es durchaus für möglich, daß anständige Menschen, die sozial denken mit moralisch akzeptablen Methoden sehr reich werden.
Meinetwegen kann Frau Klatten gern Milliardärin bleiben.
Es stört mich nur, wenn Superreiche steuerlich besser gestellt werden als Normalverdiener, daß es offensichtlich möglich ist mit einem Heer von Anwälten und Steuerberatern die Abgabenlast gen Null zu drücken.
Für Einkommens-Multimillionäre sollte eine staatlich festgelegte Mindeststeuerquote gelten, von der nichts abziehbar ist.
 (Stichwort „Buffett-Steuer“)

Es ist darüber hinaus schon recht ekelhaft, wenn wiederholt der Eindruck entsteht, die Quandt/Klatten-Familie erhielte ihren jährlichen Geldsegen insbesondere durch ihre Finanzierung der CDU.

[….] Eine Spende mit Geschmäckle: 690.000 Euro überwies die BMW-Eignerfamilie Quandt der CDU, Kanzlerin Merkel erstritt Schonung für deutsche Autokonzerne bei EU-Abgasnormen. [….] Die drei Mitglieder der Quandt-Familie haben laut der Bundestagsverwaltung der CDU am vergangenen Mittwoch insgesamt 690.000 Euro an Spenden zukommen lassen. Gemeinsam halten sie 46,7 Prozent der Anteile an BMW. Die Spenden fallen zeitlich mit einer brisanten politischen Entscheidung zusammen. Die Bundesregierung kämpft seit diesem Sommer dafür, strengere Abgasnormen für Autos in Europa später einzuführen als ursprünglich geplant. Mit Erfolg: Am Montag verhinderte die Bundesregierung bei einem Treffen der EU-Umweltminister vorläufig eine Einigung. Davon profitieren insbesondere deutsche Oberklasse-Hersteller wie BMW, aber auch Daimler, Audi oder Porsche. [….]

Jedes Jahr überweist die Quandt-Sippe sechsstellige Summen an CDU und CSU und; oh Wunder; die Steuer- und Umweltschutzgesetze bleiben kontinuierlich sehr Quandt-freundlich.

Nein, ich kann selbstverständlich nicht beweisen, daß Schäuble und Merkel aufgrund der Millionen-Überweisungen an die CDU so Quandt-freundlich handeln. Möglicherweise betreiben sie auch ganz unabhängig vom Industrielobbyismus Lobby-freundliche Politik.
 Ja, in Amerika ist es noch viel schlimmer. Hier kaufen sich Milliardäre wie deVos und Trump direkt in die Regierung ein.
Die Adelsons und Kochs schieben über ihre Super-PACs ganz andere Summen in die republikanische Partei.

Der Effekt ist auch umso größer.
Amerikas Superreiche werden noch reicher als Deutschlands Superreiche.

[…..] It was a record year for the richest people on earth, as the number of billionaires jumped 13% to 2,043 from 1,810 last year, the first time ever that Forbes has pinned down more than 2,000 ten-figure-fortunes. Their total net worth rose by 18% to $7.67 trillion, also a record. The change in the number of billionaires -- up 233 since the 2016 list -- was the biggest in the 31 years that Forbes has been tracking billionaires globally. Gainers since last year’s list outnumbered losers by more than three to one.  
Bill Gates is the number one richest for the fourth year in a row, and the richest person in the world for 18 out of the past 23 years. He has a fortune of $86 billion, up from $75 billion last year. Amazon’s Jeff Bezos had the best year of any person on the planet, adding $27.6 billion to his fortune; now worth $72.8 billion, he moved into the top three in the world for the first time, up from number five a year ago.
Warren Buffett had the second-best year, and the biggest gain since Donald Trump was elected president in November 2016. His $14.8 billion jump in 12 months was enough for him to grab back the number two spot from Amancio Ortega, founder of Spanish clothing chain Zara. Ortega’s fortune was up $4.3 billion since last year, but he still fell to fourth in the world, unable to keep up with the outsize gains of others.  [….]

18% Vermögenszuwachs bei den Superreichen innerhalb eines Jahres. In dieser Situation; man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen; wählen die Amis einen Milliardär zum Präsidenten, der nun im großen Stil Steuern für die Superreichen abschaffen will.
Hier funktioniert das Lobbying offensichtlich.

Der Wert eines Menschenlebens verhält sich in dieser von Gott geschaffenen Welt offensichtlich umgekehrt proportional zu seinem Vermögen.
Während die paar Dutzend Megareichen der Welt offensichtlich kaum Probleme haben, die Geldströme nach ihrer Laune zu lenken und beliebig auf ihre Regierungen Einfluss nehmen können, haben die 20 Millionen Habenichtse, die gerade in Afrika vor unseren Augen verhungern, gar nichts zu sagen.

Mit erstaunlich wenig Geld könnte man sie vor dem Verhungern bewahren. Es geht um gerade mal 4 Milliarden Euro für die gesamte Staatengemeinschaft. Das ist deutlich weniger als einige der Superreichen innerhalb von 12 Monaten an sich rafften.
Aber diese vier Milliarden sind den frommen Christen im Berliner Kanzleramt und dem Weißen Haus offensichtlich viel zu viel. Die lehnen sich lieber entspannt zurück und sehen zu wie die Kinder krepieren.
Die haben eben die falsche Hautfarbe und sind weit genug weg, um nicht persönlich über die bayerischen Grenzübergänge zu kommen.

 [….] Die Gegenwart ist nicht friedlich, und offenbar ist die Welt müde geworden. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Vereinten Nationen von der schlimmsten Hungerkatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg sprechen - und trotzdem so gut wie nichts passiert. Nach UN-Angaben fehlen 90 Prozent des Geldes, das es braucht, um mehr als 20 Millionen Menschen in Teilen Afrikas und in Jemen vor dem Tod zu bewahren. 90 Prozent. Bei einem überschaubaren Gesamtbetrag von vier Milliarden Euro. Nein, die internationale Gemeinschaft hat für diese Hungersnot offensichtlich keine Aufmerksamkeit übrig.
[….][….] Jetzt ist die Lage am Horn von Afrika, im Südsudan, in Nigeria und Jemen so schlimm, dass politisch nichts mehr zu machen ist. Wer die 20 Millionen Männer, Frauen und Kinder noch retten will, muss Geld in die Nothilfe stecken - auch wenn das die alten Probleme mit sich bringt. Es ist alles andere als nachhaltig, importierte Säcke voller Reis und Mehl unter hohen Transportkosten in entlegene Dörfer zu karren. [….] Trotzdem bleibt es dabei: Wenn sich die Hunger-Karten der UN dunkelrot einfärben, gibt es zur Nothilfe keine Alternative. [….] Doch die Weltorganisation ist nur so gut, wie es ihre Mitglieder wollen. Im Moment scheinen die finanzstarken Mitgliedstaaten wenig Interesse daran zu haben, die Nothilfeanstrengungen der Vereinten Nationen zu unterstützen. Auch andere Organisationen klagen über die geringe Spendenbereitschaft von Regierungen und Bürgern. Auf großen Geber-Konferenzen wie zuletzt in Oslo, wo es um Hilfsgeld für die Region um den Tschadsee ging, werden öffentlichkeitswirksam große Versprechungen gemacht - doch viele Staaten zahlen entweder viel zu spät oder gar nicht. [….]

Dienstag, 28. März 2017

Wat mut, dat mut.

Als Kind und Jugendlicher gehörte ich zu der Minderheit, die den Sport-Unterricht wie die Pest gehasst haben.
Zum Teil hing das sicher damit zusammen, daß ich immer mit Abstand der Jüngste in der Klasse war (einmal gesprungen) und mich dadurch bei Leichtathletikdisziplinen gegenüber den anderen Jungs, die zwei Jahre älter waren benachteiligt fühlte und zum anderen missfallen mir alle Mannschaftssportarten, weil Kinder dabei brutal mit den Unfähigeren umgehen.
Vielleicht war ich auch damals schon, ohne den Terminus Technicus zu kennen, leicht sozialphobisch oder aspergerig. Körperkontakt, zumindest in der eher rabiaten Art, gefiel mir nie.
In der dritten oder vierten Klasse bekamen wir erstmals „Schwimmen“ als Schulfach. Ich erinnere mich noch, daß ich zunächst frohlockte. Dadurch daß wir einen großen Teich im Garten hatten und meine Eltern befürchteten ich könnte ersaufen, war ich schon viele Jahre vorher in eine „Schwimmschule“ geschickt worden und schwamm seitdem wie ein Fisch.
Wasser war eindeutig mein Element. Endlich sollte ich auch mal irgendwas im Sport gut können, sogar deutlich besser als die meisten. Es gab eine ganze Reihe Nichtschwimmer in der Klasse.
Aber das war natürlich auch ein Reinfall. Erstens gefiel es mir noch weniger als Vorbild für die armen untergehenden Tropfe herzuhalten, als wie früher selbst derjenige zu sein, der etwas nicht gut konnte und zweitens war das Schulschwimmen mit sagenhaftem Aufwand verbunden. Erst mußte man sich sammeln, dann mit einem Bus quer durch die Stadt gefahren werden, um schließlich in einem durchchlorierten Hallenbad anzukommen, welches mit stinkigen Fußpilz-Katakomben nicht gerade einladend wirkte.
In einer der sparkigen Mannschaftsumkleiden mußte man sich dann eine blöde Badehose anziehen, die am Körper klebte (Wozu? Zuhause schwammen wir immer nackt!), eine gräßliche Badekappe aufstülpen, so daß man nichts mehr hörte, um dann schlußendlich noch nicht mal nach Herzenslust herum zu tauchen und ins Wasser zu springen.
Nein, nun wurde akribisch zwischen Kraulen und Brust unterschieden. Zudem hatte ich auf der Bahn zu bleiben und zu allem Übel wurden Zeiten gestoppt, so daß wieder die verhassten Rangfolgen und Noten erstellt werden konnten. Was für eine Pleite.
Besser wurde es nicht. Schon vor der Sportumkleide graute es mir. All die Jahre, in denen die Jungs penetrant mit den Fortschritten ihrer Pubertät prahlten, verkündeten nun schon sechs Sackhaare zu haben; sich auch noch auf den Sportunterricht freuten!
So zog sich das über die Jahre hin. Der Tag, an dem ich den verflixten, peinlichen „Turnbeutel“ mit in die Schule schleppte, war schon mal die Pest.
Gut war dann erst die Skireise in der zehnten Klasse, auf die sich alle so freuten. Diese 10 Tage im Kleinwalsertal galten als Highlight vor der Oberstufe und schon Jahre vorher kleideten sich die Popper mit den teuersten Skianzügen.
Zum Glück war ich da aber alt genug, um das einzig richtige zu tun; ich schwänzte und hatte zehn Tage frei! Das war super. Endlich in Ruhe abends mit den älteren Schülern zechen gehen, ohne daß man am nächsten Morgen in die Schule mußte.
Anders als beim üblichen Schwänzen wurde aber niemand verdächtigt die Skireise zu schwänzen, so daß noch nicht mal die Ausrede besonders ausgefeilt sein mußte und man sogar bedauert wurde.

In der Oberstufe, der VS (11. Klasse) wurde ein behaarter Riese namens „Kingkong“ mein Sportlehrer. Aufgrund der begrenzten Sporthallenkapazität hatten alle Oberstufenschüler in der Nullten Stunde (07.05 Uhr) Sport. Da drängelten sich die verschiedenen Kurse, so daß Kingkong entschied wir würden ein volles Jahr trainieren eine Meile zu laufen. Viermal um den Fußballplatz herum zu gurken war natürlich auch eine Strafe, aber Kingkong bevorzugte in 9 von 10 Fällen einen Waldlauf. Dazu rannten wir direkt aus der Umkleide ca 50 m die Straße entlang, um dann in ein Wäldchen abzubiegen. Mein bester Freund Sören und ich liefen immer am Ende der Schlange, bogen vor dem Wäldchen rechts ab, kauften dort bei einem Penny-Markt ein Billig-Brick Weißwein oder wenn wir mehr Geld hatten auch eine Flasche Sekt (Bier war nicht gut, wegen der Fahne), hockten uns auf eine Bank, rauchten ein paar Zigaretten, tranken die Flasche leer und warteten bis man ein vielstimmiges Keuchen aus dem Wald hörte. Das bedeutete sich kurz hinter der Parkbank zu ducken, zu warten bis die verschwitzten Mitschüler an einem vorbei gerast waren und sich dann wieder ganz hinten einzugliedern.
Gelegentlich fragten wir uns wie Kingkong uns wohl benoten würde, da er uns ja nie zu Gesicht bekam. Ich weiß noch wie herzlich wir lachten, als Sören nach einem Semester 8 Punkte und ich lediglich 4 Punkte im Sport bekam.
Offensichtlich wirkte meine Frisur weniger windschnittig auf ihn.
In der 12. Klasse war aber Schluss mit lustig. Ich mußte zwei Semester Jazzgymnastik, ein Semester Volleyball und ein Semester Basketball belegen. Das war vielleicht ein Alptraum. Natürlich packte mir inzwischen niemand mehr einen Turnbeutel, so daß ich logischerweise gar keinen dabei hatte und stets auf Socken und in Straßenkleidung mit den anderen rumhampeln mußte.
Jazzgymnastik stellte sich zudem nicht nur wie erwartet als unfassbar peinlich heraus (nur in Verbindung mit Marihuana zu ertragen. Zum Glück gab es einen Dealer an der Schule!), sondern dabei fiel meine Schwänzerei immer besonders unangenehm auf. In jeder Stunde lernte man neue Schrittfolgen einer Choreographie, die aufgrund meiner spärlichen Anwesenheit für mich unmöglich zu erlernen war.
Nach zwei Joints auf Socken ohne irgendwelche Schrittfolgen zu können, sinn- und zweckfrei bei der Notenvergabe zu Tina Turners „Privat Dancer“ zu debakulieren, gehört zu den traumatischsten Erlebnissen meiner Jugend.
Nach über 30 Jahren kann ich mit Fug und Recht sagen, daß ich die Sportlehrerin heute noch genauso abgrundtief hasse wie damals.
Als sie mit Leichenbittermiene verkündete, das sei aber nicht mehr als 2 Punkte wert und theatralisch losgiftete, falls ich um meine Versetzung fürchtete, solle ich nicht auf ihr Mitleid hoffen, war ich ernsthaft sauer.
Was bildet sich dieses pastellfarbige Stirnband-tragende Gymnastikhuhn mit den albernen Keulen, Reifen und Bändern ein? Daß sie aus meinen Jazzgymnastikleistungen schließen kann, ich wäre in den Schulfächern, die Köpfen erfordern genauso schlecht?
Unverschämtheit. Dachte die, ich wäre kein vorbildlicher Schüler mit guten Noten? Zum Glück war ich zu high, um mit ihr zu streiten, sondern lachte sie nur aus.
A posteriori lässt sich ganz klar sagen, daß 90% meines Schulverdrusses am Sportunterricht lagen.
 Ohne den Mist wäre das durchaus zu ertragen gewesen.

Während in der Grundschule und teilweise auch noch in der Mittelstufe viele Kinder den Sportunterricht mochten, war ich in der Oberstufe wenigstens nicht mehr der einzige, der an der Quälerei verzweifelte.
Schwimmen, das ist einsehbar, gehört zu den Basics, die jedes Kind in der Schule lernen sollte.

Bis heute sehe ich nicht ein, daß man für das Abi Englisch oder Erdkunde auslassen kann, aber Sport nicht abwählbar ist.
Wie kann etwas benotet werden, das mit den rein zufälligen physischen Gegebenheiten zusammenhängt?
Das peinliche Gehoppse zu Tina-Turnersongs ging genauso in meine Abi-Note ein, wie meine mathematischen Fähigkeiten bei der Integralrechnung.

Allerdings, das gebe ich zu, zu meiner Schulzeit gab es keine Smartphones, keine Computerspiele und nur ganz ganz wenige hatten MTV oder einen Videorekorder.
Kinder spielten üblicherweise draußen. Diese vorm Bildschirm klebenden Nerds waren noch nicht erfunden. Es gab auch noch nicht diese Overprotective-mums, die einen immer mit dem Auto kutschierten. Wir hatten alle Fahrräder und mußten uns alle sowieso regelmäßig bewegen.

Vielleicht bin ich auch bloß ein hoffnungsloser Fall. Andere sind womöglich durch den Schulsport zu Hobbybasketballspielern und Profi-Gymnastinnen geworden.
Ich habe an der Uni noch ein paar mehr Mathescheine gemacht, als ich haben mußte, während viele ehemalige Schüler sicher froh sind, wenn sie nichts mehr mit Mathematik zu tun haben müssen.

Sich zu beklagen ist aber müßig. In Deutschland bekommen die Kinder eine vergleichsweise recht gute Schulbildung völlig kostenlos.
Der Staat bezahlt KITA plus 13 Jahre professionellen Unterricht bis die Blagen erwachsen sind und als „hochschulreif“ gelten.

Unterm Strich ist das für Eltern schon ein extrem gutes Geschäft.
Öffentliche Schulen und Schulpflicht ist die Methode der Wahl.
Man sollte Darwin danken, daß in Deutschland Homeschooling verboten ist und daß sich keine Betsy de Vos den Posten der Bundesbildungsministerin gekauft hat.

Die Gesellschaft, die in diesem Fall als Kultusministerkonferenz auftritt, verständigt sich auf allgemeine Schulinhalte, über die Eltern und Schüler eben gerade nicht individuell entscheiden dürfen.
Ob es jedem einzelnen Kind gefällt Kurvendiskussionen durchzuführen, französische Grammatik zu lernen und Jazztanzchoreographien zu studieren, ist irrelevant.
Kinder müssen lernen. Sie müssen insbesondere lernen zu lernen.
Dazu gehört es auch sich Dinge anzueignen, die zumindest auf den ersten Blick nicht gefallen.

Es ist nicht Aufgabe der Eltern je nach Neigung oder religiotischer Vorbelastung darüber zu entscheiden, ob Evolution oder lieber Kreationismus gelehrt wird.
Die Lehrpläne haben sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht nach den Irrlehren elterlicher Privatgurus zu richten.
Hedwig Beverfoerde, Gabriele Kuby und Birgit Kelle sollen ihre „Demo für alle“ unterlassen und akzeptieren, daß in den Schulen des Jahres 2017 kein ausgrenzendes und diskriminierendes Menschenbild der 1950er Jahre mehr gelehrt wird.
Kinder müssen von früh an lernen, daß lesbische Eltern oder Trans-Sänger nicht dafür da sind, um mit dem Finger auf sie zu zeigen und sie auszulachen.
So wie man auch in der Schule lernen muß nicht die Finger auszustrecken und „NEGER“ zu grölen, wenn man einem dunkelhäutigen Menschen begegnet.

Ich sympathisiere mit dem streng säkularen Bildungssystem des Attatürk, das Kopftücher ultimativ in Schulen und Universitäten verbot. Das hat der Türkei gutgetan.
Allerdings empfinde ich das Kopftuch nicht als emotionales Thema.
Wer es tragen möchte, soll es tragen. Jemand anders dazu zu zwingen ein Kopftuch gegen seinen Willen zu tragen, ist ohnehin verboten, da es keinen Religionszwang gibt.
Das Problem bleiben also Mädchen, die so jung sind, daß man nicht sicher sagen kann, ob sie aus eigenem Willen oder wegen des Drucks/Wunsches/Vorbildes der Eltern Kopftuch tragen.
Das ist eine Aufgabe für die Pädagogen.
Christliche Eltern, die ihre Kinder schon im Säuglingsalter taufen lassen, also lange bevor die Kinder selbst über ihre Zugehörigkeit zur Kirche entscheiden können, sollten sich aber nicht als Verfechter für die Religionsfreiheit aufspielen, wenn sie gegen das Kopftuch vorgehen.

Ein generelles Bannen religiöser Symbole aus öffentlichen Einrichtungen könnte eine Lösung sein. Keine Kopftücher, aber dann natürlich auch keine Kreuze und Weihnachtskrippen mehr.

Nicht zulässig ist eine partielle Verweigerung der Schulpflicht.
Ob einem Sport gefällt, ist irrelevant.
Alle Kinder müssen mitmachen.
Es ist auch irrelevant, was ein anatolischer Frömmler davon hält, wenn seine zehnjährige Tochter Schwimmunterricht erhält. Das ist nun einmal obligatorisch. Period.
Das deutsche Schulsystem ist kein Wunschkonzert, bei dem man sich aussuchen kann, welche Inhalte man annimmt und welche man verweigert.
Mathe, Englisch, Schwimmen und Sexualkunde – jedes Fach wird von einigen Schülern vermutlich genauso gehasst wie ich einst Jazzgymnastik hasste.
Aber gemeinsame Standards schließen Extrawürste aus.
Hier darf es keine falsche Rücksichtnahme auf elterliche Befindlichkeiten geben.

In das Kapitel gehört auch der Fall des schwulen Erziehers in der Berliner KITA, der gerade durch die Presse geht.
Einige Muslimische Eltern wollen ihre Kinder nicht zu einem schwulen Kindergärtner geben. Pech gehabt. Ich wollte auch meine Jazzgymnastiklehrerin nicht haben, hieße jetzt die billige Analogie.
Staatliche Einrichtungen haben sich aber eben nicht nach religiotischen Befindlichkeiten zu richten; sie dürfen das gar nicht.
Es liegt auch nicht im Ermessen der Bürger, ob sie Steuern zahlen möchten oder zum Autofahren einen Führerschein benötigen.
Wat mut, dat mut.

[….]  Ein Homosexueller wird in Berlin-Reinickendorf Erzieher in einer Kita mit muslimischen Eltern. Das löst wütende Proteste aus. [….]  . Die Kinder wissen ja nicht, dass Eltern wegen Christian Berger massiv protestierten. „Sie gingen auf die Barrikaden“, sagt die Geschäftsführerin der Kita in Reinickendorf. Sie protestierten gegen Bergers Anstellung, sie drohten mit einer Unterschriftenaktion, sie fürchteten um ihre Kinder. Es waren muslimische Eltern. „Die kommen aus einer anderen Welt“, sagt die Geschäftsführerin. In dieser Gedankenwelt ist jemand wie Christian Berger eine latente Gefahr.
[….]  „Wir sind doch in Berlin, wir sind doch im 21. Jahrhundert, da geht doch so etwas nicht“, sagt die Geschäftsführerin, die nicht genannt werden möchte, und die vier Kitas leitet. Die Kita, in der Berger nun arbeitet, hat mit einer Ausnahme nur Kinder von muslimischen Eltern. Die Eltern kommen aus dem arabischen Bereich, aus Russland, der Türkei, aus Rumänien. „Für einige von ihnen ist ein Homosexueller automatisch ein Kinderschänder“, sagt Berger.
[….]  Kurz darauf trennte sich die Geschäftsführerin von den aufgebrachten Eltern. Deren Kinder besuchen nun eine andere Kita. [….]  

Montag, 27. März 2017

Mit wem man ins Bett geht…

Russland ist schon kompliziert.
Die Geschichte ist so ganz anders als die Deutsche und trotz der Jahrhunderte zurückreichenden Verquickungen scheint die russische Seele den selbsternannten deutschen Vernunftmenschen rätselhaft.

Gerne reklamiert der Pegidiot den Begriff „Kulturnation“ für sich. Goethe, Schiller und so. Ich bezweifele allerdings sehr, daß mehr als 1% der Dresdner Montagsdemonstranten die deutschen Klassiker gelesen haben.

Das ist in Russland anders. Russen lesen tatsächlich (noch).
Ist nicht eigentlich Russland die wahre Kulturnation?
Jeder Russlandkenner verweist auf die über Jahrhunderte ausgeprägte Leidensfähigkeit der Russen. Kaum ein Volk mußte so andauernd unter grausamen Diktaturen und widriger Umwelt leben.

Denn die russische Geschichte ist von vielen Gräueln geprägt worden - vom Mongolesturm, dem Tatarenjoch, dem Petersburger Blutsonntag bis zu den barbarischen Ausprägungen im Stalinismus seit der Oktoberrevolution. Dabei haben die Schrecken der nationalen Geschichte dazu geführt, dass die Menschen sich intensiv in ihre Leidensfähigkeit vertieften. [….]

Das prägte die weltweit gerühmte „russische Seele,“ die von einem unheilbaren Drang zur Schwermut belastet sei und brachte eine unvergleichliche künstlerische Schöpfungskraft hervor.

"Die russische Seele hat eine so titanische Kraft, um jede Handlung auszuschöpfen bis an die äußersten Grenzen."
(Irina Pabst)

Ob Russen wirklich gern leiden, wie es Kulturjournalisten voller Bewunderung für diese besondere Mentalität behaupten, wage ich zu bezweifeln.

Unbestritten ist hingegen die Weltklasse der russischen Literatur, der Malerei, der Musik, des Tanzes.

So komplex wie die russische Mentalität erscheint uns auch die Politik des größten Landes der Welt. Was wollen die eigentlich und inwieweit handeln Russen irrational aufgrund besonderer historischer Verletzungen?
Aus deutscher Sich kommt hinzu, daß uns die russische Sprache extrem komplex erscheint, daß wir noch nicht mal das Alphabet begreifen, daß wir die Namen nicht aussprechen können und zu allem Übel immer das Gefühl haben, umgekehrt wäre es nicht so.
Russen kennen Deutschland gut.

Für den Umgang mit Putins Politik, brauchen Deutsche ein „Russia for Dummies“-Ratgeber.
Leider gibt es bisher eher Bücher des Schlages „Russland verstehen“ von Prof Dr. Gabriele Krone-Schmalz, welches zwar sehr empfehlenswert, aber nicht simpel genug für den eher kulturlosen Durchschnittsteutonen ist.
Zum Glück ist seit gefühlt 50 Jahren immer Wladimir Putin an der Macht.
In und auf ihn können wir alles projizieren. Erst war er der Rationale, der beruhigenderweise die Atom-Codes aus der Hand des ewig volltrunkenen Jelzins nahm, dann war er der schöngeistige und deutschsprechende Schröder-Freund, der uns bei der Opposition gegen GWB und den Irakkrieg unterstützte und schließlich wurde Putin zum puren Bösen, der Homos verfolgt, Kritiker wegsperrt und militärisch denkt.

Putin als böse Apotheose erspart uns einiges an lästiger Differenzierung.
Wir unterscheiden gar nicht mehr zwischen Russland, dem Kreml, der russischen Regierung und Putin. Das ist alles Putin und Putins ist schlecht. Simple as that.

Das macht auch die ganze russische Politik so einfach.
Wer gegen Putin ist, ist gut.
Diese eigenartigen slawischen Namen sind zwar schwer zu transliterieren und noch schwerer zu merken, aber daher reichen uns ja auch zwei. Nawalny und Chodorkowski. Ok, und vielleicht noch Pussy Riot.
Das sind Putin-Gegner, ergo unsere Helden.

Dementsprechend sind die Titelseiten der deutschen Tageszeitungen auch voll, wenn Nawalny eins auf die Mütze bekommt.

[….] Er nahm es mit Humor: Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny (40) ist bei der Eröffnung eines Wahlkampfbüros in der Provinz mit grüner Farbe attackiert worden.
Ein Mann habe ihn am Montag vor dem Gebäude in der Stadt Barnaul in Sibirien begrüßt und ihm daraufhin die Farbe ins Gesicht und auf die Hände gespritzt, schrieb Nawalny in seinem Blog. [….]

[….] Ein Moskauer Gericht hat gegen den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny wegen der Organisation illegaler Proteste eine 15-tägige Arresthaft verhängt. Zusätzlich muss er 20.000 Rubel zahlen, umgerechnet gut 300 Euro. Nawalny hatte am Sonntag Massendemonstrationen gegen Korruption in Russland mitorganisiert. [….]

Russland: Oppositionsführer Nawalny festgenommen
[….] Die USA haben die Festnahmen demonstrierender Regierungsgegner in Russland kritisiert. Ein Sprecher des Außenministeriums in Washington sprach von einem klaren Verstoß gegen demokratische Grundrechte. Er forderte die umgehende Freilassung der Menschen.
Auch der deutsche Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte die Festnahme des russischen Oppositionspolitikers scharf. "Wer seine Sicherheitskräfte missbraucht, um jeden Protest im Keim zu ersticken, ist nicht stark, sondern fürchtet sich vor seinen eigenen Bürgern. Egal, ob er Putin oder Erdogan heißt", erklärte Özdemir. [….]

[….] Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), bewertet das Schnellverfahren gegen Kreml-Kritiker Alexej Nawalny als Versuch, Demonstranten abzuschrecken. Erler sagte unserer Redaktion, der am Montag gegen Nawalny verhängte 15tägige Arrest bestätige seine Vermutung, „dass Folge-Spaziergänge gestoppt werden sollen“. [….]
(Neue OZ, 27.03.2017)

Nawalny und Chodorkowski – das Traumpaar der deutschen Politik und Presse.
Die Hoffnung Russlands. Die Mutigen, die Putin stürzen wollen.
Aber Vorsicht, bevor man mit denen ins politische Bett steigt.

Alexei Anatoljewitsch Nawalny, 38, Bürgerrechtsanwalt, Blogger, Anti-Putin-Aktivist, weltweitbekannter Oppositioneller, Kasparow-Freund, Polizeikritiker, Aktionär, Moskauer Bürgermeisterkandidat, radikaler Nationalist, Antisemit, mutmaßlicher Veruntreuer staatlicher Gelder wurde gestern wegen Betruges und Verleumdung zu dreieinhalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Sein Bruder Oleg erhielt für dieselben Taten sogar dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung.

Das roch nach Sippenhaft und so wurde Nawalny zur russischen Timoschenko, zur Ikone der Putin-kritischen westlicher Öffentlichkeit.
Das sei ja eindeutig ein politischer Prozess, da solle jemand zum Schweigen gebracht werden, schalt es aus den westlichen Regierungszentralen.

Die EU und die USA haben die Verurteilung des russischen Regierungsgegners Alexej Nawalny und seines Bruders kritisiert. "Der Schuldspruch scheint politisch motiviert", sagte ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini in Brüssel. [….]
US-Außenamtssprecher Jeff Rathke sagte, der Richterspruch erscheine als ein weiteres Beispiel der zunehmenden Zerschlagung unabhängiger Stimmen durch die russische Regierung. Der Gerichtsentscheid sei besorgniserregend, ganz offenbar sollten politische Aktivisten bestraft werden. [….]

Soweit die Fakten.

Zu den Unsicherheiten:
Ich kann überhaupt nicht beurteilen, ob Nawalny und sein Bruder wirklich den Kosmetikkonzern Yves Rocher um eine halbe Million Euro betrogen haben.
Ich habe auch keinerlei Beleg dafür gesehen, daß Merkel oder John Kerry Prozessbeobachter gewesen sind und Einblick in die Beweisstücke gehabt hätten.
In Deutschland gehört sich Richterschelte von der Regierungsbank aus nicht, da man streng auf Gewaltenteilung achtet. Die Exekutive darf der Judikative keinesfalls reinreden.
Wieso sich EU und USA ausgerechnet in Russland nicht an solche Regeln halten, weiß ich nicht.

Nun noch ein paar weitere Fakten:
Nawalny konnte immerhin zu den Bürgermeisterwahlen 2011 antreten, bei denen er rund 27% holte, die von Wahlbeobachtern nicht angezweifelt wurden.
Das Bewährungsurteil gilt wegen seiner Milde als Überraschung! Einige Jahre Arbeitslager hatte man allgemein erwartet.
Benjamin Bidder, Korrespondent von SPIEGEL ONLINE in Moskau, empört sich über die „Sippenhaftartigkeit“ und spricht von Massenprotesten der Nawalny-Anhänger gegen das Urteil. Sein Beleg:
Auf Facebook haben bislang 18.000 ihre Teilnahme zugesagt.
Gestern, am Tag der Urteilsverkündung gab es offenbar 1000 – 2000 Demonstranten. Moskau hat 15 Millionen Einwohner. Bei wenigen Tausend Nawalny-Fans von „Massen“ zu sprechen, erscheint mir etwas gewagt.

Nawalny ist mutmaßlicher Straftäter, auf jeden Fall aber radikaler Nationalist und Antisemit.

Bei Chodorkowski sieht es nicht viel besser aus. Das russische Volk sollte froh sein, daß der Oligarch vom Kreml gestoppt wurde.

Michail Chodorkowski, Julia Timoschenko, Arseniy Yatsenyuk und Petro Poroschenko sind alles Lieblinge der europäischen Presse und der westlichen Politiker, obwohl zumindest die ersten beiden nach hiesigen Maßstäben Schwerverbrecher sind.

[….] Wer sich ein wenig mit dem Fall Chodorkowski/Jukos beschäftigt hat, konnte gestern Abend seinen Ohren nicht trauen, als der Nachrichtensprecher des ZDF-Heute-Journals in sonorem Ton sagte, Chodorkowski sei von den Behörden aufgrund des „beliebig dehnbaren Begriffs der Steuerhinterziehung“ inhaftiert wurden. Die Ansicht, dass der Begriff Steuerhinterziehung beliebig dehnbar sei, vertreten die Herren Hoeneß, Zumwinkel und diverse Schweizer Banker sicherlich auch. Mit dem Fall Chodorkowski hat dies jedoch relativ wenig zu tun. Die hohe Haftstrafe verbüßt der Oligarch nicht wegen Steuerhinterziehung, sondern wegen gewerbsmäßigen Betrugs, Unterschlagung und Geldwäsche – der Tatbestand der Steuerhinterziehung war „lediglich“ eine Folge der anderen Tatbestände, da Chodorkowski und sein Partner Platon Lebedew für das ergaunerte und unterschlagene Geld naturgemäß auch keine Steuern bezahlten. [….]  Chodorkowski [konnte] mit dem eher bescheidenen Einsatz von 42 Mio. US$ das Unternehmen Jukos zusammenschmieden, dessen geschätzter Wert 42 Mrd. US$ – also das Tausendfache – betrug. Dass er dabei zahlreiche Gesetze gebrochen hat, bestreitet auch heute niemand ernsthaft. Damals interessierte dies in Russland jedoch niemanden. Chodorkowski schmierte den Jelzin-Clan mit Millionen und dafür ließ ihn die korrupte Staatsführung gewähren. [….]  Es besteht kein Zweifel daran, dass Chodorkowski Verbrechen begangen hat und zu Recht hinter Gittern sitzt. Auch das Strafmaß ist keinesfalls überzogen. Wer anderer Meinung ist, kann sich ja gerne mal bei den USA beschweren, die den Betrüger Bernie Madoff wegen ähnlicher Verbrechen zu stolzen 150 Jahren Haft verurteilt haben.
Würde man einen ähnlichen Maßstab an alle Oligarchen anlegen, würden die Villenviertel von Sotchi wohl schnell leer stehen, da die ehemaligen Besitzer nun in sibirischen Arbeitslagern untergebracht sind. Es ließe sich vortrefflich darüber debattieren, warum Putin den Rest der Räuberbarone verschont hat. Dies macht Chodorkowski jedoch kein Jota „unschuldiger“. [….]