Jeden
Tag neue Friktionen mit der Türkei.
Nachdem
Myriaden türkische Journalisten, Wissenschaftler und Lehrer relativ willkürlich
verhaftet wurden; der Präsident aber Deutschland Nazi-Methoden vorwirft,
schreibt SPIEGEL ONLINE lapidar „Erdogan dreht frei“.
Die
Gefechtslage ist klar: Nachdem Frau Merkel der Türkei jahrelang attestiert
hatte, de facto minderwertig zu sein und nie in die EU zu kommen, obwohl das
Land gerade unter Recep Tayyip Erdoğan tatsächlich enorme Fortschritte gemacht und
sogar einen Frieden mit den Kurden
eingeläutet hatte, fing der Ministerpräsident irgendwann an zu
schmollen. Wenn er schon nicht im exklusiven EU-Club mitmachen dürfe, wolle er
wenigstens Kaiser der Türkei werden. Auf diesem Weg wurde Recep Tayyip Erdoğan
leider größenwahnsinnig und geriet dann unverhofft in eine Situation, in der Merkel ihn auf einmal
dringend brauchte.
Jetzt
rächt sich der Mann an ihr. Er glaubt sich mittlerweile gegenüber Deutschland
alles erlauben zu können.
In
dieser Hinsicht dreht er übrigens nicht völlig frei. Die Türkei ist
wirtschaftlich viel schwächer als Deutschland und nahm dennoch bisher drei
Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Seit Jahren geht das so und nie wurde es
der Türkei gedankt. Was wäre in Deutschland los, wenn hier drei Millionen Syrer
und Iraker aufgenommen worden wären?
"In der
internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht
um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im
Geschichtsunterricht erzählt."
(Egon
Bahr am 3. Dezember 2013)
Die
Türkei hat auch Interessen und sie hat nun einen wirksamen Hebel gegen Merkel
in der Hand. Die Kanzlerin befördert bis heute eher die Fluchtursachen, löst
also keine Bürgerkriegskatastrophen. Sie tritt international eigentlich gar
nicht als Vermittlerin und Friedenspolitikerin für den Nahen Osten oder Afrika
auf.
Ihre
Flüchtlingspolitik ist heute reine Abschottungspolitik. Sollen die Menschen
doch fliehen – Hauptsache sie kommen nicht bis zu uns durch, sondern werden
irgendwo weit vor Deutschland eingesperrt oder im Meer ersäuft.
Merkel
hat sich tatsächlich in eine Erdoğan-Abhängigkeit begeben, die er jeden Tag
mehr ausnutzt.
Inzwischen
überreizt er sein Blatt aber derartig, daß sich Politiker von ganz links bis
ganz rechts (aus unterschiedlichen Gründen) wünschen, Frau Merkel würde mit der
Faust auf den Tisch schlagen.
Was für
eine Absurdität – in alle den Jahren, als es noch den „netten Erdoğan“ gab, der
Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit garantierte, wollte Merkel ihm nicht
den kleinen Finger reichen, aber seit er zum Diktator, Despot und sogar
Psychopath wurde, verwöhnt sie ihn.
Kein
Wunder, daß er denkt vor seinem großen Ermächtigungsreferendum die Kanzlerin
instrumentalisieren zu können. Sie läßt sich auch instrumentalisieren, indem sie ihn
schon zwei Mal mitten im Wahlkampf besuchte, so daß es wie eine direkte AKP-Unterstützung
aussehen mußte. Der Präsident glaubt nur gewinnen zu können. Poltert er gegen
die Kanzlerin und die nimmt es weiterhin stoisch hin, wirkt er bei seinen
konservativen Anhängern stark und respektiert. Sollte die Bundesrepublik in
irgendeiner Form zurück keilen, würde das als antitürkisches Vorurteil
umgedeutet und den Nationalismus befeuern – also ebenfalls der AKP helfen.
Eine
Win-Win-Situation für Ankara?
Nicht
ganz. Zu sehr darf Erdoğan nicht überreizen, da sein autoritärer Kurs der
Wirtschaft schon schwer geschadet hat.
Sollte
Merkel doch irgendwann die Nase voll haben und den EU-Türkei-Pakt platzen
lassen, bekäme man am Bosporus ein gewaltiges Finanzproblem.
Ausgeschlossen
ist das Szenario nicht mehr.
Merkel
ist zwar so gut wie nicht zu demütigen, weil sie jede Beleidigung stoisch an
sich abprallen lässt, aber innerhalb der CDU/CSU könnte sich enormer Druck
aufbauen. Zu viele würden es gern sehen, wenn die Kanzlerin dem Psycho aus
Ankara ordentlich in den Hintern tritt.
Emotional
geht es mir kaum anders.
Erstens
ist mir Recep Tayyip Erdoğan extrem unsympathisch.
(Ich sehe ihn charakterlich auf einer Ebene
mit Duterte und Trump. Verglichen mit dem debilen Trio wirkt Putin auf mich
rational und weise.)
Zweitens
fühle ich mit Erdoğans Opfern wie dem von mir verehrten Deniz Yücel.
Es ist
aber Vorsicht geboten.
Erreicht
die Bundesregierung womöglich das Gegenteil, wenn sie mit gleicher Münze
zurückzahlt? Wie wirkt es sich auf inhaftierte Journalisten aus, wenn Erdoğan
noch viel wütender wird?
Hilft es
nicht eher der eigenen Popularität in Deutschland, wenn Merkel oder Gabriel auf
die Türkei eindreschen?
Bewegen
sie sich nicht dann auf den gleichen Pfaden wie der Gescholtene?
Zu oft
hört man beim Bau einer DITIB-Moschee von deutschen Nachbarn, das solle nicht
erlaubt werden, weil man in Muslimischen Ländern schließlich auch keine Kirchen
bauen könne.
Das ist
aber gerade kein Argument. Wir relativieren unsere Freiheitliche Grundordnung
nicht, wenn andere Länder weniger frei auftreten.
Wir
töten keine straffälligen Amerikaner, weil in Amerika selbst die Todesstrafe
herrscht.
Wir
bestrafen keine schwulen Sudanesen, weil Homosexualität im Sudan verboten ist.
Und
natürlich schränken wir nicht die Religionsfreiheit in Deutschland ein, weil es
keine Religionsfreiheit in Saudi-Arabien gibt.
Es wird
wohl nicht so schnell eine katholische Kirche in Riad gebaut werden. Wenn aber
Hamburger Iraner eine schiitische Moschee bauen wollen, erlauben wird das, weil
wir die Religionsfreiheit aller in diesem Land garantieren.
Merkel-Fan
Cem Özdemir hat dieses Prinzip leider nicht verstanden.
[…..]
Der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Cem
Özdemir forderte am Montag im ARD-"Morgenmagazin" faire Bedingungen.
Aus seiner Sicht müssten auch deutsche Politiker in der Türkei auftreten
können. "Also warum nicht beispielsweise sagen, dann wollen wir auch eine
Kundgebung auf dem Taksim-Platz in der Türkei machen. Ich wäre bereit, dorthin
zu gehen und eine Kundgebung zu machen, wenn Ankara für meine Sicherheit
garantiert", sagte Özdemir. "Ich wäre mal gespannt, wie die Antwort
ist." [….]
Falsch!
Die Redefreiheit in Deutschland hängt natürlich nicht mit der Redefreiheit in Istanbul zusammen.
Die Redefreiheit in Deutschland hängt natürlich nicht mit der Redefreiheit in Istanbul zusammen.
Sollte Erdoğan
morgen allen Deutschen verbieten öffentlich in der Türkei zu reden, verteidigen
wir unseren Rechtsstaat, indem wir darauf achten, daß weiterhin alle Türken in
Deutschland frei reden dürfen und eben nicht auf das gleiche postdemokratische
Autokraten-Niveau absinken.
Deutschland
hat gerade gegenüber der Türkei und anderen prä-autoritären Staaten gegenüber
streng seine Liberalität, seinen Pluralismus und seine Freiheit zu garantieren.
Wir
zahlen nicht mit gleicher Münze heim.
Der
österreichische Kanzler Christian Kern ist mit seiner Idee, Wahlkampfauftritte
türkischer Politiker EU-weit zu verbieten, vollkommen auf dem Holzweg.
Es tut
mir ja Leid für alle Linken und Grünen, aber ausnahmsweise stimme ich in dieser
Angelegenheit völlig mit der GroKo überein; mit CDU und SPD.
[…..]
Trotz der Spannungen betonte die CDU die
Bedeutung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Daher sei man auch nicht für ein
generelles Auftrittsverbot für türkische Politiker, hieß es nach einer
Präsidiumssitzung.
Ähnlich äußerte sich
Bundesaußenminister Sigmar Gabriel: Die Bundesrepublik habe im Unterschied zu
anderen EU-Staaten einen hohen Anteils türkischstämmiger Mitbürger, sagte
Gabriel in Brüssel. Deshalb sei man schon immer ein Zielland des Wahlkampfes
türkischer Parteien gewesen. Auftritte türkischer Politiker müssten möglich
sein, solange nicht Sicherheitsbedenken dagegen sprächen. […..]
Das
bedeutet aber andererseits nicht, daß man wie Merkel gegenüber Ankara und
Washington kleinlaut und duckmäuserisch sein soll.
Laut und
deutlich Bedenken zu artikulieren, muß man von der deutschen Regierungschefin
erwarten dürfen.
Hier
zeigt Merkel allerdings enorme Schwächen.
Merkels falsche
Leisetreterei
[…..] Wenn
es um notwendige Kritik an der Politik der Türkei oder ihres Präsidenten ging,
lavierte Merkel in den vergangenen Monaten stets leisetreterisch herum und
schickte zunächst andere vor. Sie vermied es zu lange, öffentlich selbst zu
sagen, ob türkische Politiker in Deutschland Wahlkampf für Erdoğans Referendum
am 16. April machen dürfen. Sie hätte früh erklären können, das dürften sie,
solange sie hier nicht hetzen oder die Regierung beleidigen. Damit hätte Merkel
vermutlich den Behörden in Gaggenau oder Köln geholfen. Spätestens seit am
vorigen Freitag der türkische Justizminister Deutschland eines
"faschistischen Vorgehens" beschuldigte, weil er nicht in Gaggenau
hatte auftreten dürfen, hätte Merkel sich persönlich eindeutig äußern müssen.
Dass sie zunächst auch noch schwieg, als Erdoğan der Bundesregierung
"Nazi-Praktiken" vorhielt, ist unverzeihlich. Wieder mussten erst der
Fraktionschef und der Regierungssprecher auftreten. Erst Montagnachmittag
raffte sich Merkel selbst zu einer Bemerkung auf: Erdoğans "deplatzierte
Äußerungen" könne man "ernsthaft eigentlich gar nicht
kommentieren".
Merkel, so scheint es,
hat das Gespür dafür verloren, wann sie Dinge treiben lassen kann und wann sie
einschreiten muss. Das war schon bei der Auseinandersetzung mit Horst Seehofer
so, ebenso wie bei der vergeblichen Suche nach einem eigenen Unions-Kandidaten
fürs Präsidentenamt. Nun hat sie sich auch im Konflikt mit der Türkei zu lange
weggeduckt. Das ist nicht diplomatisch klug, sondern falsch. […..]
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