Samstag, 6. Dezember 2014

Meine populärpsychologische Familiengeschichte


Meine Mutter war das sechste von sechs Kindern meines Opas. Die klassische Nachzüglerin. Eine späte Überraschung.
Ihre älteste Schwester wurde 1911 geboren. Auch sie war wohl ein Ausrutscher. Dann folgten die weiteren Geschwister 1920, 1921, 1923 und 1930. Als meine Mutter in Hamburg geboren wurde, regierte ein gewisser Adolf Hitler schon seit einigen Jahren.
Opa hatte damals einige geschäftliche Schwierigkeiten, weil seine Schwester, meine Großtante mit einem politisch aktiven Kommunisten verheiratet war.
Das nationalsozialistische System war von Willkür gekennzeichnet. So blieb Opa selbst von schweren Repressalien verschont.
Selbst zu alt, um noch Soldat zu werden, arbeitete er in einer „kriegswichtigen Angelegenheit“ indem er Messinstrumente für Flugzeugcockpits fertigte.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion schickte man ihm einige feinmechanisch ausgebildete russische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in die Firma. Was Opa davon hielt, weiß ich nicht.
Allerdings befand er, daß die Russen viel zu mager waren und schickte sie erst mal zu meiner Oma nach Hause, um sie aufzupäppeln. Oma war froh, weil sie dringend einen Babysitter für meine Mutter brauchte.
Und dann kam es wie es kommen mußte. Oma und Opa wurden denunziert. Und irgendein NSdAP-Offizieller überprüfte wo denn die russischen Kriegsgefangen wären. Jedenfalls nicht da, wo sie arbeiten sollten.
Man fand sie schließlich sich sonnend in Omas Garten, während meine Mutter sie mit ihrem Puppenwagen unterhielt und russisch lernte. Sie war so froh endlich jemanden zu haben. Ihre Geschwister waren fast alle erwachsen und aus dem Haus, Oma und Opa 24h am Tag damit beschäftigt den Kriegsalltag zu bewältigen. Nie hatte jemand richtig Zeit für sie. Und nun ein ganzer Haufen junger Männer, die sich nur um sie kümmerten. Das fand sie toll!
Der NSdAP-Mensch war weniger begeistert.

Als der Krieg zu Ende war und man sich endlich wieder bewegen durfte, kratze Opa alles was er hatte zusammen und kaufte sich einen gebrauchten VW-Käfer, steckte drei seiner Kinder auf den Rücksitz und fuhr los. Bis nach Portugal.
Die Enge Nazi-Deutschlands mußte durchbrochen werden.
Ein erwachsener Bruder meiner Mutter reiste gleich für ein halbes Jahr weiter nach Afrika.
Noch in den 1950ern schwang sich meine Mutter mit einer Freundin in eben jenen VW-Käfer, der inzwischen zum Cabrio umgebaut worden war und fuhr gen Süd-Ost. Über ein Jahr waren die beiden Mädchen unterwegs. Über die legendäre Autoput nach Jugoslawien, Türkei, Syrien, Libanon, Israel bis in die Levante.
Ich habe natürlich oft gefragt wovon sie eigentlich gelebt haben, aber das war erstaunlich unkompliziert. In den meisten Gegenden hatte man noch nie Deutsche gesehen und schon gar nicht zwei junge Frauen, die Auto fuhren.
Der IS war noch nicht erfunden, dafür aber die berühmte orientalische Gastfreundschaft. Sie wurden also fast immer in irgendwelche Familien eingeladen und in all der Zeit nicht einmal belästigt.

Als sie zurück in Deutschland war sprach sie recht gut türkisch und akzeptabel arabisch, prallte dann aber auf die spießige Adenauerzeit.
In meinem Besitz existiert eine schriftliche Nachricht der Polizei an meinen Opa. Beigelegt ist eine anonym geschriebene Karte eines „empörten Bürgers“, auf der die Rocklänge des Fräulein X. beklagt wird. Die Polizei bittet daraufhin meinen Opa eindringlich darum seine Tochter (die inzwischen Mitte 20 war) auf züchtigere Kleidung einzunorden.
Da war Deutschland wieder so klein.
Und offenbar war der Entschluß meiner Mutter dieses Land endgültig zu verlassen schon ausgereift.
Sie folgte ihrer gleichaltrigen Cousine, die ebenfalls von der Reiselust meines Opas angesteckt, nach New York ausgewandert war.

Mein Vater wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen Kaff in Pennsylvania auf. Sein Vater, mein amerikanischer Opa fiel mit 30 Jahren tot um. Oma stand mittellos mit drei kleinen Jungs da und mußte arbeiten gehen.
Sozialhilfe und KITAs gab es nicht. Also gab sie die Kinder tagsüber bei dem alten Onkel Francis ab. Der hockte bei Wind und Wetter mit seinem Gewehr auf der Veranda, erklärte seinen Neffen, daß Juden Hufe hätten und er nicht reingehen könne, da er beabsichtige jeden „Nigger“ der sich seinem Haus nähere sofort zu erschießen.
Das war keine gute Lösung.
Oma, als fromme Katholikin, gab ihre Jungs daraufhin lieber zu dem Priester. Der hatte zwar die gleichen Ansichten über Juden und „Negros“, aber immerhin kein Gewehr im Anschlag.
Etwas anderes als „Neger erschießen“ erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Die drei Jungs im Alter zwischen acht und zehn Jahren könnten womöglich eines Tages onanieren.
Dem mußte vorgebeugt werden, indem er sie zur Sicherheit jeden mindestens einmal pro Tag ordentlich verprügelte. Der Gottesmann tat das in bester Absicht. Wußte er doch, daß sie mit einer allein erziehenden Mutter lebten – ohne einen Vater, der kräftig zuschlagen konnte. Und so viel war für den Mann der Kirche klar: Wenn man Kinder nicht regelmäßig verprügelt, können gefährliche Onanisten aus ihnen werden.
Oma fasste schließlich den Entschluß, daß es so nicht weitergehen könne.
Kurz nach dem Krieg packte sie ihre Kinder ein, fuhr nach Manhattan und ging dort in die CITY BANK. Dem verblüfften Mann am Schalter verkündete sie, daß sie dort als Sekretärin zu arbeiten denke. Nein, gelernt habe sie das nicht, aber sie hätten ja schließlich auch keine Bank in dem Dorf aus dem sie kam.
Mein Vater sah in New York erstmals die Typen, vor denen er immer gewarnt worden war: Juden und „Neger“ und Schwule. (Vermutlich sogar Onanisten. Aber das ist Spekulation.)
Und wie das so ist, wenn man aus der Enge der Kleinstadt kommt: Man findet alles gut, was vorher verboten war.
Sein schwarzschwuljüdischer Freundeskreis war später befremdet, als er sich ausgerechnet mit einer Deutschen einließ und diese in einem Coup de Foudre heiratete.
Es passte einfach zu gut. Beide waren die Jüngsten in ihrer Familie, beide wollten immer in die Welt hinaus, beide waren mit 18 zum Entsetzen ihres Umfeldes aus der Kirche ausgetreten und beide waren nahezu vollständig vorurteilsfrei.
New York war für die beiden gerade groß genug, aber das hinderte sie nicht daran wie verrückt weiter zu reisen.
Sie zeigte ihm Europa und er zeigte ihr Amerika.

Offensichtlich kann man in ganz verschiedenen Ecken der Welt die gleichen Sehnsüchte entwickeln.
 Und offensichtlich kann man dabei auch Glück haben.
Was mein Opa nach dem Krieg auf der iberischen Halbinsel entdeckte, ist heute alles verschandelt und überlaufen.
Und ganz sicher würde ich heute meine 19-Jährige Tochter nicht in ein kleines, altersschwaches Auto setzen und ihr viel Glück wünschen auf dem Weg über die Autoput in den Nahen Osten.

Heute ist das Reisen so viel einfacher! Aber die Fremde lockt mich so viel weniger. Meine Abenteuerlust ist unterentwickelt. Fernsehen und Internet geben mir auch so Einblicke, die in den 50ern nur durch „hinfahren“ erhältlich waren.
Städte gucke ich mir gern an. Theoretisch.
Aber das vollkommen überlaufene und mit Souvenir-Buden gepflasterte Prag von 2014 hat eben so gut wie gar nichts mehr mit der Traumstadt aus den 1960ern zu tun, die mein Vater gezeigt bekam.
Ich halte es für ein echtes Elend, daß insbesondere Fliegen so billig geworden ist.
Es sind ja nicht nur Rimini, Lloret de Mar und Mallorca, die von Deutschen überflutet sind, nein, Billigtouristen trampeln inzwischen genauso das Kambodschanische Ankor Wat und das Peruanische Machu Picchu platt.

Was für ein Treppenwitz der Geschichte, daß meine Eltern schließlich mit ihren Kindern in Deutschland sesshaft werden sollten.
Natürlich erklärten meinen Vater alle seine Freunde für verrückt, als er Amerika verließ.

Deutschland gefiel ihm aber.
Sie waren noch gar nicht lange in Hamburg und hatten mit Freunden einen feucht fröhlichen Abend, als mein Vater partypoopte, daß er jetzt aber doch langsam mal schlafen müsse, da er morgen früh aufzustehen hätte.
Meine Mutter erklärte ihm, daß er sich umsonst sorge. Morgen wäre „Buß und Bettag“ und der sei in Deutschland ein Feiertag.
Protestantische Tradition.
Da arbeite niemand.
„Buß- und Bettag“?
Für meinen Vater klang „Booze and bed-day“ ganz ausgezeichnet.
Ja, das war doch mal ein sinnvoller Feiertag!
Das Land gefiel ihm. Sechs Wochen bezahlter Urlaub und „Booze and bed-day“.
Über Jahre hat ihm niemand erklärt, was es mit diesem „Booze and bed-day“ auf sich hatte.
Aber er war doch irgendwie enttäuscht als der „Booze and bed-day“ 1995 vom Katholiken Helmut Kohl als gesetzlicher Feiertag abgeschafft wurde.

Früher war eben alles besser.






Dieses Posting ist meiner „Oma Amerika“ gewidmet, die heute 100 Jahre alt geworden wäre.
Sie war ebenfalls, wie meine beiden Eltern, das jüngste Kind ihrer Eltern.
Ihre vier älteren Schwestern wurden alle noch in Galizien geboren. Sie ist die erste aus diesem Zweig der Familie, die in den USA geboren wurde.


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