Meine
Mutter war das sechste von sechs Kindern meines Opas. Die klassische
Nachzüglerin. Eine späte Überraschung.
Ihre
älteste Schwester wurde 1911 geboren. Auch sie war wohl ein Ausrutscher. Dann
folgten die weiteren Geschwister 1920, 1921, 1923 und 1930. Als meine Mutter in
Hamburg geboren wurde, regierte ein gewisser Adolf Hitler schon seit einigen
Jahren.
Opa
hatte damals einige geschäftliche Schwierigkeiten, weil seine Schwester, meine
Großtante mit einem politisch aktiven Kommunisten verheiratet war.
Das
nationalsozialistische System war von Willkür gekennzeichnet. So blieb Opa
selbst von schweren Repressalien verschont.
Selbst
zu alt, um noch Soldat zu werden, arbeitete er in einer „kriegswichtigen
Angelegenheit“ indem er Messinstrumente für Flugzeugcockpits fertigte.
Nach dem
Überfall auf die Sowjetunion schickte man ihm einige feinmechanisch
ausgebildete russische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in die Firma. Was Opa
davon hielt, weiß ich nicht.
Allerdings
befand er, daß die Russen viel zu mager waren und schickte sie erst mal zu
meiner Oma nach Hause, um sie aufzupäppeln. Oma war froh, weil sie dringend
einen Babysitter für meine Mutter brauchte.
Und dann
kam es wie es kommen mußte. Oma und Opa wurden denunziert. Und irgendein
NSdAP-Offizieller überprüfte wo denn die russischen Kriegsgefangen wären.
Jedenfalls nicht da, wo sie arbeiten sollten.
Man fand
sie schließlich sich sonnend in Omas Garten, während meine Mutter sie mit ihrem
Puppenwagen unterhielt und russisch lernte. Sie war so froh endlich jemanden zu
haben. Ihre Geschwister waren fast alle erwachsen und aus dem Haus, Oma und Opa
24h am Tag damit beschäftigt den Kriegsalltag zu bewältigen. Nie hatte jemand
richtig Zeit für sie. Und nun ein ganzer Haufen junger Männer, die sich nur um
sie kümmerten. Das fand sie toll!
Der
NSdAP-Mensch war weniger begeistert.
Als der
Krieg zu Ende war und man sich endlich wieder bewegen durfte, kratze Opa alles
was er hatte zusammen und kaufte sich einen gebrauchten VW-Käfer, steckte drei
seiner Kinder auf den Rücksitz und fuhr los. Bis nach Portugal.
Die Enge
Nazi-Deutschlands mußte durchbrochen werden.
Ein
erwachsener Bruder meiner Mutter reiste gleich für ein halbes Jahr weiter nach
Afrika.
Noch in
den 1950ern schwang sich meine Mutter mit einer Freundin in eben jenen
VW-Käfer, der inzwischen zum Cabrio umgebaut worden war und fuhr gen Süd-Ost.
Über ein Jahr waren die beiden Mädchen unterwegs. Über die legendäre Autoput
nach Jugoslawien, Türkei, Syrien, Libanon, Israel bis in die Levante.
Ich habe
natürlich oft gefragt wovon sie eigentlich gelebt haben, aber das war
erstaunlich unkompliziert. In den meisten Gegenden hatte man noch nie Deutsche
gesehen und schon gar nicht zwei junge Frauen, die Auto fuhren.
Der IS
war noch nicht erfunden, dafür aber die berühmte orientalische
Gastfreundschaft. Sie wurden also fast immer in irgendwelche Familien
eingeladen und in all der Zeit nicht einmal belästigt.
Als sie
zurück in Deutschland war sprach sie recht gut türkisch und akzeptabel
arabisch, prallte dann aber auf die spießige Adenauerzeit.
In
meinem Besitz existiert eine schriftliche Nachricht der Polizei an meinen Opa.
Beigelegt ist eine anonym geschriebene Karte eines „empörten Bürgers“, auf der
die Rocklänge des Fräulein X. beklagt wird. Die Polizei bittet daraufhin meinen
Opa eindringlich darum seine Tochter (die inzwischen Mitte 20 war) auf
züchtigere Kleidung einzunorden.
Da war
Deutschland wieder so klein.
Und
offenbar war der Entschluß meiner Mutter dieses Land endgültig zu verlassen
schon ausgereift.
Sie
folgte ihrer gleichaltrigen Cousine, die ebenfalls von der Reiselust meines Opas
angesteckt, nach New York ausgewandert war.
Mein
Vater wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen Kaff in Pennsylvania
auf. Sein Vater, mein amerikanischer Opa fiel mit 30 Jahren tot um. Oma stand
mittellos mit drei kleinen Jungs da und mußte arbeiten gehen.
Sozialhilfe
und KITAs gab es nicht. Also gab sie die Kinder tagsüber bei dem alten Onkel
Francis ab. Der hockte bei Wind und Wetter mit seinem Gewehr auf der Veranda,
erklärte seinen Neffen, daß Juden Hufe hätten und er nicht reingehen könne, da
er beabsichtige jeden „Nigger“ der sich seinem Haus nähere sofort zu
erschießen.
Das war
keine gute Lösung.
Oma, als fromme Katholikin, gab ihre Jungs daraufhin lieber zu dem Priester. Der hatte zwar
die gleichen Ansichten über Juden und „Negros“, aber immerhin kein Gewehr im
Anschlag.
Etwas anderes
als „Neger erschießen“ erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Die drei Jungs im
Alter zwischen acht und zehn Jahren könnten womöglich eines Tages onanieren.
Dem
mußte vorgebeugt werden, indem er sie zur Sicherheit jeden mindestens einmal
pro Tag ordentlich verprügelte. Der Gottesmann tat das in bester Absicht. Wußte
er doch, daß sie mit einer allein erziehenden Mutter lebten – ohne einen Vater,
der kräftig zuschlagen konnte. Und so viel war für den Mann der Kirche klar:
Wenn man Kinder nicht regelmäßig verprügelt, können gefährliche Onanisten aus
ihnen werden.
Oma
fasste schließlich den Entschluß, daß es so nicht weitergehen könne.
Kurz
nach dem Krieg packte sie ihre Kinder ein, fuhr nach Manhattan und ging dort in
die CITY BANK. Dem verblüfften Mann am Schalter verkündete sie, daß sie dort
als Sekretärin zu arbeiten denke. Nein, gelernt habe sie das nicht, aber sie
hätten ja schließlich auch keine Bank in dem Dorf aus dem sie kam.
Mein
Vater sah in New York erstmals die Typen, vor denen er immer gewarnt worden war:
Juden und „Neger“ und Schwule. (Vermutlich sogar Onanisten. Aber das ist
Spekulation.)
Und wie
das so ist, wenn man aus der Enge der Kleinstadt kommt: Man findet alles gut,
was vorher verboten war.
Sein
schwarzschwuljüdischer Freundeskreis war später befremdet, als er sich
ausgerechnet mit einer Deutschen einließ und diese in einem Coup de Foudre heiratete.
Es
passte einfach zu gut. Beide waren die Jüngsten in ihrer Familie, beide wollten
immer in die Welt hinaus, beide waren mit 18 zum Entsetzen ihres Umfeldes aus
der Kirche ausgetreten und beide waren nahezu vollständig vorurteilsfrei.
New York
war für die beiden gerade groß genug, aber das hinderte sie nicht daran wie
verrückt weiter zu reisen.
Sie
zeigte ihm Europa und er zeigte ihr Amerika.
Offensichtlich
kann man in ganz verschiedenen Ecken der Welt die gleichen Sehnsüchte
entwickeln.
Und offensichtlich kann man dabei auch Glück
haben.
Was mein
Opa nach dem Krieg auf der iberischen Halbinsel entdeckte, ist heute alles
verschandelt und überlaufen.
Und ganz
sicher würde ich heute meine 19-Jährige Tochter nicht in ein kleines,
altersschwaches Auto setzen und ihr viel Glück wünschen auf dem Weg über die
Autoput in den Nahen Osten.
Heute
ist das Reisen so viel einfacher! Aber die Fremde lockt mich so viel weniger.
Meine Abenteuerlust ist unterentwickelt. Fernsehen und Internet geben mir auch
so Einblicke, die in den 50ern nur durch „hinfahren“ erhältlich waren.
Städte
gucke ich mir gern an. Theoretisch.
Aber das
vollkommen überlaufene und mit Souvenir-Buden gepflasterte Prag von 2014 hat
eben so gut wie gar nichts mehr mit der Traumstadt aus den 1960ern zu tun, die
mein Vater gezeigt bekam.
Ich
halte es für ein echtes Elend, daß insbesondere Fliegen so billig geworden ist.
Es sind
ja nicht nur Rimini, Lloret de Mar und Mallorca, die von Deutschen überflutet
sind, nein, Billigtouristen trampeln inzwischen genauso das Kambodschanische
Ankor Wat und das Peruanische Machu Picchu platt.
Was für ein
Treppenwitz der Geschichte, daß meine Eltern schließlich mit ihren Kindern in
Deutschland sesshaft werden sollten.
Natürlich
erklärten meinen Vater alle seine Freunde für verrückt, als er Amerika verließ.
Deutschland
gefiel ihm aber.
Sie
waren noch gar nicht lange in Hamburg und hatten mit Freunden einen feucht
fröhlichen Abend, als mein Vater partypoopte, daß er jetzt aber doch langsam
mal schlafen müsse, da er morgen früh aufzustehen hätte.
Meine
Mutter erklärte ihm, daß er sich umsonst sorge. Morgen wäre „Buß und Bettag“
und der sei in Deutschland ein Feiertag.
Protestantische
Tradition.
Da
arbeite niemand.
„Buß-
und Bettag“?
Für meinen Vater klang „Booze and bed-day“ ganz ausgezeichnet.
Für meinen Vater klang „Booze and bed-day“ ganz ausgezeichnet.
Ja, das
war doch mal ein sinnvoller Feiertag!
Das Land gefiel ihm. Sechs Wochen bezahlter Urlaub und „Booze and bed-day“.
Das Land gefiel ihm. Sechs Wochen bezahlter Urlaub und „Booze and bed-day“.
Über
Jahre hat ihm niemand erklärt, was es mit diesem „Booze and bed-day“ auf sich
hatte.
Aber
er war doch irgendwie enttäuscht als der „Booze and bed-day“ 1995 vom
Katholiken Helmut Kohl als gesetzlicher Feiertag abgeschafft wurde.
Früher
war eben alles besser.
Dieses
Posting ist meiner „Oma Amerika“ gewidmet, die heute 100 Jahre alt geworden
wäre.
Sie war
ebenfalls, wie meine beiden Eltern, das jüngste Kind ihrer Eltern.
Ihre
vier älteren Schwestern wurden alle noch in Galizien geboren. Sie ist die erste
aus diesem Zweig der Familie, die in den USA geboren wurde.
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