Alexei
Anatoljewitsch Nawalny, 38, Bürgerrechtsanwalt, Blogger, Anti-Putin-Aktivist,
weltweitbekannter Oppositioneller, Kasparow-Freund, Polizeikritiker, Aktionär,
Moskauer Bürgermeisterkandidat, radikaler Nationalist, Antisemit, mutmaßlicher
Veruntreuer staatlicher Gelder wurde gestern wegen Betruges und Verleumdung zu
dreieinhalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Sein Bruder Oleg erhielt für
dieselben Taten sogar dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung.
Das roch
nach Sippenhaft und so wurde Nawalny zur russischen Timoschenko, zur Ikone der
Putin-kritischen westlicher Öffentlichkeit.
Das sei
ja eindeutig ein politischer Prozess, da solle jemand zum Schweigen gebracht
werden, schalt es aus den westlichen Regierungszentralen.
Die EU und die USA
haben die Verurteilung des russischen Regierungsgegners Alexej Nawalny und
seines Bruders kritisiert. "Der Schuldspruch scheint politisch
motiviert", sagte ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini
in Brüssel. [….]
US-Außenamtssprecher
Jeff Rathke sagte, der Richterspruch erscheine als ein weiteres Beispiel der
zunehmenden Zerschlagung unabhängiger Stimmen durch die russische Regierung.
Der Gerichtsentscheid sei besorgniserregend, ganz offenbar sollten politische
Aktivisten bestraft werden. [….]
Soweit
die Fakten.
Zu den
Unsicherheiten:
Ich kann
überhaupt nicht beurteilen, ob Nawalny und sein Bruder wirklich den
Kosmetikkonzern Yves Rocher um eine halbe Million Euro betrogen haben.
Ich habe
auch keinerlei Beleg dafür gesehen, daß Merkel oder John Kerry
Prozessbeobachter gewesen sind und Einblick in die Beweisstücke gehabt hätten.
In
Deutschland gehört sich Richterschelte von der Regierungsbank aus nicht, da man
streng auf Gewaltenteilung achtet. Die Exekutive darf der Judikative
keinesfalls reinreden.
Wieso
sich EU und USA ausgerechnet in Russland nicht an solche Regeln halten, weiß
ich nicht.
Nun noch
ein paar weitere Fakten:
Nawalny
konnte immerhin zu den Bürgermeisterwahlen 2011 antreten, bei denen er rund 27%
holte, die von Wahlbeobachtern nicht angezweifelt wurden.
Das
Bewährungsurteil gilt wegen seiner Milde als Überraschung! Einige Jahre
Arbeitslager hatte man allgemein erwartet.
Benjamin
Bidder, Korrespondent von SPIEGEL ONLINE in Moskau, empört sich über die „Sippenhaftartigkeit“
und spricht von Massenprotesten der Nawalny-Anhänger gegen das Urteil. Sein
Beleg:
Auf Facebook haben bislang 18.000 ihre Teilnahme zugesagt.
Auf Facebook haben bislang 18.000 ihre Teilnahme zugesagt.
Gestern,
am Tag der Urteilsverkündung gab es offenbar 1000 – 2000 Demonstranten. Moskau
hat 15 Millionen Einwohner. Bei wenigen Tausend Nawalny-Fans von „Massen“ zu
sprechen, erscheint mir etwas gewagt.
Auf dem Manege-Platz
im Zentrum Moskau versammelten sich am Abend nach Angaben von
SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent Benjamin Bidder ein paar Tausend Menschen. Die
Demonstration fiel bei klirrender Kälte und minus 15 Grad Celsius deutlich
kleiner aus als erwartet. Im Internet hatten sich mehr als 18.000 Menschen
angekündigt. "Russland ohne Putin" und "Freiheit für
Nawalny" riefen die Demonstranten.
Daß sich
EU und USA dennoch so deutlich pro-Nawalny äußern, steht in einer fragwürdigen
Tradition Oppositionelle jeglicher Art hochzujubeln.
Michail
Chodorkowski, Julia Timoschenko, Arseniy Yatsenyuk
und Petro Poroschenko sind alles Lieblinge der europäischen Presse und der
westlichen Politiker, obwohl zumindest die ersten beiden nach hiesigen Maßstäben
Schwerverbrecher sind.
[….]
Wer sich ein wenig mit dem Fall
Chodorkowski/Jukos beschäftigt hat, konnte gestern Abend seinen Ohren nicht
trauen, als der Nachrichtensprecher des ZDF-Heute-Journals in sonorem Ton
sagte, Chodorkowski sei von den Behörden aufgrund des „beliebig dehnbaren
Begriffs der Steuerhinterziehung“ inhaftiert wurden. Die Ansicht, dass der
Begriff Steuerhinterziehung beliebig dehnbar sei, vertreten die Herren Hoeneß,
Zumwinkel und diverse Schweizer Banker sicherlich auch. Mit dem Fall
Chodorkowski hat dies jedoch relativ wenig zu tun. Die hohe Haftstrafe verbüßt
der Oligarch nicht wegen Steuerhinterziehung, sondern wegen gewerbsmäßigen
Betrugs, Unterschlagung und Geldwäsche – der Tatbestand der Steuerhinterziehung
war „lediglich“ eine Folge der anderen Tatbestände, da Chodorkowski und sein
Partner Platon Lebedew für das ergaunerte und unterschlagene Geld naturgemäß
auch keine Steuern bezahlten. [….] Chodorkowski [konnte] mit dem eher bescheidenen Einsatz von 42 Mio. US$ das Unternehmen
Jukos zusammenschmieden, dessen geschätzter Wert 42 Mrd. US$ – also das
Tausendfache – betrug. Dass er dabei zahlreiche Gesetze gebrochen hat,
bestreitet auch heute niemand ernsthaft. Damals interessierte dies in Russland
jedoch niemanden. Chodorkowski schmierte den Jelzin-Clan mit Millionen und
dafür ließ ihn die korrupte Staatsführung gewähren. [….] Es
besteht kein Zweifel daran, dass Chodorkowski Verbrechen begangen hat und zu
Recht hinter Gittern sitzt. Auch das Strafmaß ist keinesfalls überzogen. Wer
anderer Meinung ist, kann sich ja gerne mal bei den USA beschweren, die den
Betrüger Bernie Madoff wegen ähnlicher Verbrechen zu stolzen 150 Jahren Haft
verurteilt haben.
Würde man einen
ähnlichen Maßstab an alle Oligarchen anlegen, würden die Villenviertel von
Sotchi wohl schnell leer stehen, da die ehemaligen Besitzer nun in sibirischen
Arbeitslagern untergebracht sind. Es ließe sich vortrefflich darüber
debattieren, warum Putin den Rest der Räuberbarone verschont hat. Dies macht
Chodorkowski jedoch kein Jota „unschuldiger“. [….]
Zu den
Unsicherheiten:
Die
Hauptstadt soll laut Beobachtern inzwischen so multikulti und liberal geworden
sein, daß ein strammer Nationalist wie Nawalny 2011 auch nicht viel mehr
Stimmen erwarten konnte.
Ihn als
ernsthaften Putin-Herausforderer hochzujazzen, scheint mir absurd zu sein, da
die Zufriedenheit mit dem Präsidenten riesengroß ist.
Vor allem die
"Heimkehr" der Krim löste eine Welle des Patriotismus in Russland
aus: 85 Prozent der Russen sind nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts
Lewada mit Putins Politik einverstanden.
Noch vor wenigen paar
Jahren war das nicht unbedingt zu erwarten. Nach den Parlamentswahlen 2011 war
es in Russland zu einer regelrechten Protestbewegung gegen den Präsidenten
gekommen. Ende 2011 lag die Zustimmung zu Putin bei 63 Prozent. Bis Februar
2014 blieb dieser Wert im 60er-Bereich. Dann, nach Sotschi, machte er einen
Satz nach oben: 80 Prozent der Russen sagten im März, sie seien zufrieden mit
ihrem Präsidenten.
Weder der Absturz des
Rubels noch die Wirtschaftskrise in Russland haben an Putins Beliebtheit etwas
ändern können.
Zu den
Fakten:
Mit autoritären und diktatorischen Regimen ohne freie Justiz haben Merkel und die EU sonst gar keine Probleme.
Mit autoritären und diktatorischen Regimen ohne freie Justiz haben Merkel und die EU sonst gar keine Probleme.
Seit
deutlich über 20 Jahren regiert der Schwerverbrecher und Diktator Islom Karimov
Usbekistan. Mit Prozessen gegen Regimegegner wie in Moskau würde sich Karimov
nie rumplagen. Er läßt Oppositionelle zu Hunderten einfach erschießen. Kein
Problem für Merkel, die Usbekistan ohne ein kritisches Wort hofiert.
Es gibt
Schätzungen, nach denen in China jährlich bis zu 8.000 Todesurteile gesprochen
werden. Getötete Regimegegner werden anschließend im wahrsten Sinne des Wortes
ausgeweidet; der Staat verdient mit ihren Organen. Auch das ist Federica
Mogherini in Brüssel und US-Außenamtssprecher Jeff Rathke keine Erwähnung wert.
Wie Schwule
und Frauen in Merkels Lieblingshandelsländern Saudi Arabien und den VAE
behandelt werden, ist ebenfalls kein Geheimnis.
Auch das
lockt Federica Mogherini und Jeff Rathke nicht hinter dem Ofen hervor.
Damit
das klar ist: Ich rede keiner Tu Quoque-Argumentation das Wort.
Sollte
der Kreml Einfluß auf die Urteile gegen seine Kritiker nehmen, wird das
keineswegs dadurch gerechtfertigt, daß andere Länder noch schlimmer und
dreister gegen ihre Kritiker vorgehen.
Ich
behaupte aber, daß „der Westen“ seine Glaubwürdigkeit endgültig verspielt, wenn
er mit dicken Balken in den Augen auf Putins Splitter zeigt, wenn Merkel und
Gauck offen ihrer Russophobie frönen.
Es ist
so wahnsinnig einfach für Kreml-Politiker Kritik aus Deutschland zu parieren.
Sie
müssen nur nach Amerika zeigen.
Dort ist
die Justiz vermutlich sogar noch schlimmer. Je nach dem was für Kriterien
man ansetzt.
Dort wird
gefoltert, dort werden jedes Jahr Hunderte hingerichtet – darunter Minderjährige
und psychisch Kranke. Es gibt eindeutig rassistische Justiz, krasse Bevorzugung
weißer Angeklagter und wer sich mit dem amerikanischen „Regime“ anlegt, indem
er ähnlich wie Nawalny geheime Dokumente veröffentlicht, kommt mit absoluter Sicherheit nicht mit einer Bewährungsstrafe
davon.
WikiLeaks-Informant
Bradley Manning ist zu 35 Jahren Haft verurteilt worden. Es ist ein deutliches
Signal des Gerichts: Enthüller können in den USA keine Gnade erwarten.
35 Jahre, das ist ein
hartes Urteil. Und es ist ein Exempel. Wer einen 25-jährigen Whistleblower zu
einer solchen Haftstrafe verurteilt, die seine bisherige Lebenszeit deutlich
überschreitet, der setzt ein Ausrufezeichen. Im Fall von Bradley Manning hat
Militärrichterin Denise Lind deutlich gemacht: Wer US-Geheimnisse verrät, der
kann nicht mit Gnade rechnen.
Joseph
Charles Wilson, der die Lügen der GWB-Regierung über Saddams angebliche
Atomwaffen aufdeckte, wurde besonders perfide bestraft, indem das Weiße Haus
die Identität seiner Ehefrau Valerie Plame, einer CIA-Agentin enthüllte und die
Familie somit Todesgefahren aussetzte.
John Kiriakou ist der
erste ehemalige CIA-Agent, der im Zusammenhang mit Folter im „Krieg gegen den
Terror“ ins Gefängnis muss. Der 48-jährige US-Amerikaner ist am vergangenen
Freitag in Alexandria, Virginia zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt worden.
Doch Kiriakou ist kein
Folterer. Als ihm sein Geheimdienst eine Weiterbildung in „verbesserten
Verhörtechniken“ anbot, lehnte Kiriakou ab. Mehrere Jahre später wurde er der
Ex-Agent, der die systematische CIA-Folter und deren Rückendeckung durch
US-Präsident George W. Bush als erster öffentlich machte. Dieser „Verrat“ und
die Nennung eines Folterers wird ihm jetzt zum Verhängnis. […] Kiriakous Weg an die Öffentlichkeit – und ins Gefängnis – begann 2007
mit einem ABC-Interview. Darin berichtete er vom „Waterboarding“, dem
simulierten Ertränken, dem Abu Zubaydah nach seiner Gefangennahme ausgesetzt
war – nach heutigem Erkenntnisstand mindestens 83 Mal. Kiriakou selbst war
nicht dabei, er kannte die Geschichte nur von Ex-Kollegen. Aber er kritisierte
die Folter als verfassungswidrig. Die
CIA reagierte prompt. Weniger als 24 Stunden nach dem Interview lag ein erster
„crimes report“ über Kiriakou vor. Weitere Schikanen folgten: jährliche
Finanzkontrollen, FBI-Untersuchungen, Ermittlungen gegen seine Frau, die
ebenfalls CIA-Mitarbeiterin war. Eine Spionageanklage. Und zuletzt der Vorwurf,
er habe ein Geheimhaltungsgesetz verletzt, weil er den Namen eines Folterers
genannt hat.
Für dieses letzte
„Verbrechen“ ist Kiriakou jetzt verurteilt worden. Unterdessen bleiben die
Folterer in Freiheit.
Solange
also Merkel und die gesamte EU zu den Foltermethoden der USA schweigen,
Todesurteile hinnehmen und viel zu viel Angst haben von Amerika Verfolgte wie
Assange oder Snowden zu schützen, sollten sie sich wirklich sparen einzelne
Gerichtsverfahren in Moskau zu kritisieren.
Damit machen sie sich nur lächerlich.
Solche
Kritik nimmt Herr Putin – ZU RECHT – nicht ernst.
Glaubwürdigkeit
gewinnt Merkel aus russischer (und meiner) Sicht erst, wenn sie die unsägliche
Feigheit vor dem Freund USA aufgibt.
Was kann, was soll
Europa tun? Die Foltervorwürfe jetzt niedriger zu hängen, mit dem Argument,
dass Europa die USA doch brauche, klingt zynisch oder resignativ nach dem alten
Lehrsatz: Macht geht vor Recht, politische Machthaber kommen ungeschoren davon,
auch wenn sie überführt sind. Solche Lehrsätze stimmen jedoch heute nicht mehr.
Der Kampf gegen die Folter und gegen die Straflosigkeit nach schweren
Menschenrechtsverletzungen hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur in
Europa, sondern weltweit an Unterstützung gewonnen, ungeachtet aller
Rückschläge.
Die Auseinandersetzung
mit den CIA-Foltermethoden muss deshalb weitergehen – allen internationalen
Spannungen und Problemen zum Trotz. Dabei gilt allerdings auch: Wir in
Deutschland haben keinen Anlass zu Überheblichkeit. Schließlich hat die
schäbige, rechtsstaatswidrige Behandlung von Murat Kurnaz für die
Verantwortlichen in Nachrichtendienst und Regierung bisher keinerlei Folgen
gehabt.
Europa muss nun
selbstbewusst mit den USA über die gemeinsamen westlichen Werte reden – und
auch streiten. […] Die Abgeordneten der nationalen Parlamente
und des Europäischen Parlaments sind gefordert. Auch die Justiz kann helfen:
Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte hat im Juli 2014 zwei in Polen
durch die CIA Gefolterten Schadenersatz zuerkannt. […] Im UN-Menschenrechtsrat schließlich müssen die Europäer Farbe bekennen:
Jedes Verständnis für US-Folter würde die Ernsthaftigkeit Europas beim
Eintreten für die Menschenrechte vollends infrage stellen.
(Herta
Däubler-Gmelin 18.12.14)
Wer sich
näher mit Whistleblowern und dem Umgang mit ihnen beschäftigen möchte, dem sei
die ARTE-Dokumentation „Schweig‘ Verräter!“
empfohlen.
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