Mittwoch, 19. April 2017

Türken-Bashing.


Endlich sind sich mal alle einig. Von Links über Grün über SPD bis CDU sind alle sauer auf die in Deutschland lebenden Türken, die mit ihrem stark überproportionalen EVET-Votum dazu beitrugen ein Präsidialsystem à la Recep Tayyip Erdoğan einzurichten und damit den Ausstieg aus der Demokratie ebnen.
Tatsächlich wäre das Referendum ohne die expats wohl gegen das Präsidialsystem ausgefallen.

"Hier leben, die Vorzüge der Demokratie genießen und in einem Land, in dem man gar nicht mehr lebt, für die Einführung einer Diktatur stimmen".

[…..] CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt kritisiert in Deutschland lebende Türken. Von ihnen hätte sie sich "ein klares Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gewünscht", sagte Hasselfeldt den Zeitungen der Funke-Mediengruppe vom Dienstag. Leider sei "genau das Gegenteil" passiert. […..]

Die hohe Zustimmung für ein Ja beim Referendum in der Türkei unter den türkischen Wählern in Deutschland ist in erster Linie die Folge davon, dass man Erdogans Netzwerk in Deutschland jahrelang hat gewähren lassen. Häufig wurden und werden Erdogans Organisationen für die Integrationspolitik als Ansprechpartner genommen. Seit Jahren werden Erdogans Helfershelfer im Kanzleramt beim Integrationsgipfel oder im Bundesinnenministerium in der Deutschen Islamkonferenz hofiert. So hat man den Bock zum Gärtner gemacht und darf sich über das Ergebnis nicht wundern.

So eine Sauerei von diesen blöden Türken.
Die wollten sich doch gar nicht integrieren und daher dürften sie auch nicht die doppelte Staatsbürgerschaft bekommen – das ist der Tenor in den Kommentarspalten. Der deutsche Michl ist empört.

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (43, CDU) zu BILD: „Das hat mich geschockt.“ Er ist sauer auf die 440000 Deutsch-Türken, die „bequem und komfortabel von ihrer Wohnzimmercouch aus“ für die Abschaffung der Demokratie in der Türkei gestimmt haben. „Ausbaden müssen das die, die in der Türkei Probleme mit der Regierung haben, wie Aleviten, Kurden, politisch Andersdenkende.“
[…..] Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach (64) formuliert es so: „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass bei Hunderttausenden bei uns in Deutschland lebenden Türken die ökonomische und soziale Loyalität in Deutschland liegt, politisch und ideologisch aber bei Erdogan.“ […..]
(BILD-Zeitung von heute….)

Gern orakeln CDUler und andere dumpfe Blutrechtsnationalisten, die anderen die Rechte verweigern wollen, die sie selbst ohne Anstrengung ererbt haben* von mangelnder Loyalität oder Rechtstreue der potentiellen Neu-Deutschen.

*(Thomas de Maizières Familie lebt nicht so lange in Deutschland wie meine, aber er macht mir jetzt Vorschriften über meine Nationalität.)

Rechtstreue in einen Zusammenhang mit der Doppelstaatsbürgerschaft zu bringen, ist genau absurd und geradezu bösartig wie Wagenknechts Gastrecht-Phrasen.
Jeder in Deutschland Lebende hat sich selbstverständlich an die hiesigen Gesetze zu halten; völlig unabhängig vom Pass. Sollte ich jemals Deutscher werden, gilt für mich in gleicherweise der Diebstahlparagraf wie jetzt.
Das deutsche Rechtssystem wird nicht davon tangiert, ob man Deutscher, Ausländer oder beides ist. (…… )

Leider sind auch viele professionelle Journalisten so verblendet, daß sie nun auf die Türken eindreschen und diese damit noch mehr in Erdoğans Arme treiben.

Aber gemach; bezieht man die Evet-Stimmen auf alle Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland, machen sie lediglich 15% aus.
Die Deutschtürken haben also nicht für Erdoğan gestimmt.

Schaut man sich dagegen an, wie nur in Deutschland abgestimmt wurde, sieht das Ergebnis auf den ersten Blick ganz anders aus: Bei Ja machten laut vorläufigem Ergebnis 63,1 Prozent der hier lebenden Wahlberechtigten ein Kreuz. Es ist jedoch falsch, anhand dieser Zahl generelle Rückschlüsse auf die Einstellung von Deutschtürken zu ziehen. Daher ein paar Details: In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt 2,9 Millionen Menschen, die aus der Türkei stammen. Von ihnen sind 1,43 Millionen wahlberechtigte türkische Staatsangehörige. Rund 46 Prozent – also etwa 661.000 Personen – haben von diesem Recht Gebrauch gemacht. Mit Ja gestimmt haben etwa 416.000 der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten.
Ich will das Ergebnis nicht schönreden, denn aus meiner Sicht ist jede Stimme für die Verfassungsänderung eine zu viel. Dennoch sollten in der Diskussion über die Demokratiefähigkeit von Deutschtürken nicht alle in einen Topf geschmissen werden. Wer alle in Deutschland einbezieht, die hätten abstimmen dürfen, dem fällt auf, dass nur 29 Prozent von ihnen für die Machterweiterung Erdoğans gestimmt haben, der Rest hat entweder mit Nein gestimmt oder ist nicht zur Wahl gegangen. Aus dem Wahlergebnis lässt sich also weder schließen, die Mehrheit der Deutschtürken sei für den Demokratieabbau in der Türkei, noch, sie sei "Feuer und Flamme" für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dessen Plan, sich mit mehr Macht auszustatten. [….]

Wie üblich zeigt sich Mopo/Berliner Kurier-Autor Harald Stutte völlig ahnungslos und will türkische Mitbürger bestrafen. Er drischt erst mal auf die Türken ein, ohne sich um Ursachen und die wahren Zahlen zu scheren.
Damit belegt Stutte natürlich unfreiwillig wie berechtigt das Gefühl abgelehnt zu werden vieler hier lebenden Migranten ist.

MOPO-Kommentar Türken und Deutsche: Unsere fremden Mitbürger
[…..] Was nun, du bunte Republik? Deutschlands „Doppelpass-Türken“ haben sich zu fast zwei Dritteln gegen eine demokratische Verfassung entschieden, die Gewaltenteilung, parlamentarische Kontrolle, unabhängige Justiz garantierte.
Was nur einen Schluss zulässt: Sie lehnen mehrheitlich auch unser System ab, das ja durch seine föderative Struktur eine noch weitreichendere Kontrolle staatlicher Institutionen erlaubt. […..] Die doppelte Staatsbürgerschaft gehört auf den Prüfstand! […..]

Herr Stutte hängt offenbar immer noch an Adolf Hitlers Blutrecht, dem Ius Sanguinis.
Seiner Ansicht nach ist es sein großes Privileg Deutscher zu sein, weil er in Deutschland geboren wurde.
Wer aber nicht so reines deutsches Blut hat – so wie ich zum Beispiel – soll für immer Ausländer bleiben, auch wenn er wie Millionen „Deutschtürken“ und ich in Deutschland geboren wurde.
Die Staatsbürgerschaft, die Stutte einfach qua Geburt in den Schoß fiel, soll den Menschen mit etwas dunkleren Augen und nicht ganz so rosiger Haut nur als außerordentlich großzügiger Akt gewährt und bei einer Stutte nicht genehmen politischen Ansicht auch wieder entzogen werden können. Geradezu bösartig agiert der bekanntermaßen nicht allzu gebildete Autor hier.

Bizarrerweise muß man in derselben Ausgabe der Hamburger Morgenpost, in der dieser Stutte-Leitartikel steht nur ein paar Seiten weiter blättern, um schwarz auf weiß zu lesen wie sehr etwas dunkelhäutigere Menschen ausgegrenzt und diskriminiert werden in Deutschland.
Nach 50 Jahren in Deutschland wird man von der hiesigen Mehrheitsgesellschaft immer noch abgelehnt. Das erleben dunkelhäutige Menschen jeden Tag.

Weil er einen Migrationshintergrund hat, wurde Abdul N. (21) nicht im Fitnessstudio Benefit in Eidelstedt aufgenommen. Der Vorfall, über den die MOPO berichtete, hat in ganz Hamburg für große Empörung gesorgt. Zahlreiche Medien berichteten anschließend darüber. In den sozialen Netzwerken und auf MOPO.de häuften sich die Kommentare. Selbst die Politik wurde aufmerksam.
„Unfassbar“, nennt der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Danial Ilkhanipour den Rassismus-Skandal in Eidelstedt. Immer wieder höre man von Vorfällen, bei denen Einwanderer Probleme bei der Wohnungssuche, im Berufsleben, bei Bewerbungen oder selbst beim Betreten einer Diskothek bekämen
„Alltagsdiskriminierung ist ein Skandal“, so Ilkhanipour. „Für die Betroffenen ist es entwürdigend.“ Es sei richtig, dass Abdul N. sich dagegen wehrt. Ilkanipour: „Da muss ein Zeichen gesetzt werden.“ Der Politiker hat sich selbst für Abdul N. eingesetzt und ihm eine Mitgliedschaft in einem anderen Fitnessstudio in Niendorf zu den gleichen Konditionen wie bei Benefit organisiert.


Aber auch seriösere Journalisten sind nicht sehr faktennah.

[…..] Was aus deutscher Sicht mindestens ebenso besorgen muss wie der knappe und zumindest fragwürdige Ausgang des Referendums in der Türkei, ist das klare Resultat in Deutschland: 63 Prozent der türkischstämmigen Wähler hierzulande für das Präsidialsystem gestimmt. Die von der Wahlkommission bekannt gegebenen Detailergebnisse muss man sich mal vor Augen führen: Fast 76 Prozent Zustimmung in Essen, annähernd 70 Prozent in Düsseldorf – dann folgt schon Stuttgart mit 66 Prozent, später Karlsruhe mit gut 61 Prozent. Da können die knapp 58 Prozent von Frankfurt, 57 Prozent von Hamburg und vor allem die 50,1 Prozent der Bundeshauptstadt Berlin nicht trösten. […..]
 Viele Türken haben sich abgeschottet, leben in ihrer eigenen Welt. Sie nehmen zwar die Vorzüge unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens wahr, der Demokratie, des Sozialstaats und des wirtschaftlichen Wohlstands – und zugleich lassen sie ihre Heimat in Richtung Diktatur ziehen. Widersprüchlicher geht es kaum.
[…..] So konnte Erdogan mit dem Theater um Wahlkampftritte türkischer Politiker, mit Hetzparolen und absurden Nazi-Vergleichen große Teile der türkischen Gemeinde auf seine Seite bringen. Die scharfen Reaktionen vieler deutscher Politiker haben offenbar das Gegenteil des Angestrebten bewirkt: Sie haben die Gemeinde, die sich gegen eine vermeintliche Einmischung in innertürkische Angelegenheiten wehrt, weiter gespalten.
[…..]

Türken-Bashing ist sinnlos. Nachdem man sich die wahren Zahlen vergegenwärtigt hat, sollte man sich lieber darüber Gedanken machen was wohl in den Köpfen der Evet-Türken vorging.
Keine Frage, ich bin auch entsetzt über das Evet-Ergebnis und halte es für völlig absurd so gestimmt zu haben.
ABER, die Türken, die jetzt so heftig kritisiert werden, stammen nicht vom Mars, sondern sie wurden von uns und bei uns sozialisiert, gingen durch deutsche Schulen und deutsche Kitas und deutsche Ausbildungen.
Sie erleben hier offenbar auch nach vielen Dekaden noch grundsätzliche Ablehnung. Haut doch ab, wenn euch Erdogan so gefällt, müssen sie sich anhören.
Menschen wie ich sind in Deutschland geboren und dürfen bis heute nicht hier wählen, weil Spahn, Stutte und Merkel das nicht zugestehen wollen.
Wenn ihr nicht pariert, können wir euch auch Rechte entziehen, oder euch rausschmeißen – so schalt es uns von Biodeutschen entgegen.
Kein Wunder, daß man irgendwann desillusioniert und frustriert ist.
Das ist keinerlei Rechtfertigung dafür, um sich an Erdogan zu hängen, aber ich verstehe, daß es vielen Deutschtürken wohlige Gefühle bereitet, wenn ausnahmsweise mal ein Politiker auf sie zugeht, sie ernst nimmt, sie umschmeichelt, sie für wichtig und besonders erklärt.
Von der deutschen Politik erfährt man das schließlich nicht.


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